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Forum: "Hamburg: Stadtteilschulen sind als zweitklassig verrufen"
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| Zweite Liga | | von: missmarpel93
erstellt: 20.10.2014 06:10:04 |
Die Frage ist doch nicht, ob "Schulen des längeren gemeinsamen Lernens" - also Stadtteil-, Regional-, Mittel-, Sekundar-, Gemeinschafts- und auch Gesamtschulen - zweitklassig sind, die Frage ist, ob die Gymnasien de facto erstklassig sind.
Es ist der Nimbus des Fymnasiums, das damit wirbt, den höchsten, möglichen Bildungsabschluss - die Allgemeine Hochschulreife - zu vergeben und die höher qualifizierten Lehrkräfte zu haben. Die Gymnasiallobby sieht grundsätzlich andere Schulformen und die an ihnen erworbenen Abschlüsse als zweitklassig an.
Was mich persönlich interessieren würde, wäre zu wissen, ob im Anschluss an die Schule relativ mehr Gymnasiasten als Gesamtschüler oder Berufsschüler ihr Studium "schmeißen".
Im Grunde erleben wir die Dualität von Gymnasien und anderen Schulformen in gleicher Weise wie die Rivalität zwischen wissenschaftlichen Hochschulen und Hochschulen für angewandte Wissenschaften (vulgo FH). Da behaupten Erstere ebendalls, dass Zweitere zweitklassig wären. Letztendlich wird das davon abgeleitet, dass es Hochschulen und Universitäten genauso wie Gymnasien schon länger "am Markt" gibt, während Fachhochschulen und die anderen Hochschulen erst Kinder der Neuzeit sind. Warum das schon ewig nicht mehr reformierte, in Problemfällen abschulende Gymnasium jetzt besser auf seine Kundschaft zugeht als andere Schulformen, die wesentlich mehr zu bieten haben in Bezug auf individuelle Förderung, ist mir schleierhaft. Mit Elitenbildung hat das nämlich nichts zu tun. |
| @ missmarpel | | von: amann
erstellt: 20.10.2014 10:01:26 geändert: 20.10.2014 10:01:46 |
Die Gymnasiallobby sieht grundsätzlich andere Schulformen und die an ihnen erworbenen Abschlüsse als zweitklassig an.
Ich bin nicht ganz sicher, was du dir unter "Gymnasiallobby" vorstellst. ich bin Lehrer am Gymnasium und gehöre damit möglicherweise auch zu diesen üblen Lobbyisten. Ich widerspreche dir und bitte dich, nicht so platt vereinfachende Globalaussagen zu machen.
Kinder sind nicht alle gleich, und auch ihre Lebensziele nicht. In der von uns allen erträumten Idealwelt würde ich 5 bis 10 Kinder unterrichten, könnte auf ihren individuellen Lernstand eingehen und jede_n so fördern, wie seine/ihre Fähigkeiten reichen. In der harten Realität dagegen muss ich eine Klasse von derzeit 30 Kindern unterrichten; das gelingt nur mir dann, wenn das Spektrum ihrer Intelligenz, Arbeitshaltung und Verhaltensmuster nicht zu weit gestreut ist. (Natürlich weiß ich, dass es in Deutschland mindestens ein Dutzend Superlehrer gibt, die auch in einer großen Klasse von Hochbegabten bis Föderschülern jeden individuell gut fördern können; ich kenne aber keinen dieser Lehrer.)
Aus diesem Grund brauchen wir Klassen (nicht unbedingt Schulen) auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus. Ich hatte Nachhilfeschüler aus der Hauptschule; diese brauchten viele Wiederholungszyklen, was bei Gymnasiasten zu ungeheurer Langeweile und Frustration geführt hätte. Wenn aber jemand in Französisch, Textanalyse oder Mathe gar nicht klarkommt, kann sie dennoch eine großartige Elektrikerin, Geschäftsfrau oder Gärtnerin sein. Dazu braucht sie einen anderen Unterricht als das Mädchen, das später mal Meeresbiologin oder Psychotherapeutin werden will.
Ich widerspreche entschieden deiner Behauptung, die Gymnasialleute sähen andere Abschlüsse als zweitklassig an. Vielleicht kennst du Leute, die so reden; dann wäre es fair, du würdest deine Erfahrung beschreiben und keine Globalaussage machen - so ist es nahe an der Grenze zur Verleumdung. In meiner Schule wertschätzen wir jeden Abschluss, jedes verantwortlich gewählte Lebensziel.
Wenn nun, wie geschrieben, die Stadtteilschulen einen schlechten Ruf haben, würde ich zuerst fragen:
- Haben sie diesen Ruf wirklich? in der Bevölkerung oder nur in den Medien?
- hatten die Realschulen, aus denen die Stadtteilschulen hervorgingen, auch einen schlechten Ruf?
- Werden die nicht-Abitur-Abschlüsse in der politischen Diskussion wertgeschätzt und beworben?
- Welchen Anspruch haben die Stadtteilschulen an sich selber? Wird dieser Anspruch eingelöst? anders gefragt: geht das pädagogische Konzept auf? Ich würde mich über Erfahrungsberichte von KollegInnen freuen. |
| was man so | | von: fruusch
erstellt: 21.10.2014 10:47:29 |
aus Hamburg mitbekommt - insbesondere die wiederholten Bürgerinitiativen gegen die Schulpolitik der Stadt - scheinen da die Emotionen ja ganz schön hoch zu kochen. Ja, von einer gewissen überheblichen "Elite" werden die Stadtteilschulen abgelehnt und das Gymnasium als allein selig machende Schulform auf den hohen Sockel gehoben. Selbiges kann man auch andernorts beobachten, wenn besorgte "Bildungsbürger" fürchten, ihre Kinder müssten mit "denen da" gemeinsam lernen.
Schuld daran ist meiner Meinung nach eine völlig verfehlte Politik, die allein auf die seltsame EU-Forderung nach höherer Abiturquote abzielt. Dabei hat Deutschland mit dem dualen System etwas einmalig Gutes, das auch international viel Beachtung und einige Nachahmer findet. Die Verknüpfung von Schulbildung und betrieblicher Ausbildung hat große Vorteile, so dass die deutschen Facharbeiter international den besten Ruf haben. Doch das soll alles kaputt gemacht werden, weil "sehr guter Facharbeiter" eben schlechter als "unfähiger Ingenieur" sein soll. Anstatt jedes Kind nach seinen Begabungen zu fördern und auf einen Beruf hin zu führen, den es gerne und gut ausübt, wird mit Gewalt alles in Richtung Abitur geschoben, ob es nun passt oder nicht.
Die Art des Abschlusses als Bewertungsmaßstab für eine "gute" oder "schlechte" Schule her zu nehmen ist meiner Ansicht nach pervers. Allein ausschlaggebend sollte dafür sein, mit welchen pädagogischen Maßnahmen und mit welchem Erfolg die Schule ihre jeweilige Schülerklientel zu diesem Abschluss führt, und wie es diesen danach mit diesem Abschluss ergeht. Ein Gymnasium mit 30% Abbrecherquote im darauf folgenden Studium wäre für mich darum eine schlechtere Schule als eine Realschule mit 90% Erfolgsquote in der anschließenden Ausbildung. Warum? Das Gymnasium war offensichtlich nicht in der Lage, seine Schüler studierfähig zu machen, während die Realschule es ihren Schülern ermöglicht hat, einen Beruf zu erlernen.
Ebenso pervers finde ich daher die Ansprüche, die Ausbildungsbetriebe heutzutage an ihre Azubis stellen. Während zu meiner Schulzeit ein Haupt- oder Realschulabschluss der Schlüssel zu den meisten Lehrberufen war, wird heute von jedem Bäckerlehrling das Abitur verlangt. Warum nur? |
| @ miss marpel | | von: amann
erstellt: 21.10.2014 12:30:36 |
Ich stimme dir zu, dass etliche Verlautbarungen im Philologenverband einen unbegründeten Dünkel atmen, wie etwa "Der Zustrom zum Gymnasium zeigt, dass es eine besonders erfolgreiche Schulform ist." Das ist Quatsch. Ich finde, hbeilmann hat es gut auf den Punkt gebracht.
Du schreibst Tatsache ist, dass an Gymnasien eine andere Form der "Unterrichtsgestaltung" an der Tagesordnung ist,... Aber warum sollen sich gleiche Ziele nicht auch über verschiedene Wege erreichen lassen?
Dazu drei Antworten:
- Die summierte Unterrichtszeit ist begrenzt. Der steile, mühsam fordernde Weg führt schneller zum Gipfel, dann ist noch Zeit für anderes. Wenn die Kinder sich z.B. eine Waage vorstellen können und nicht erst damit spielen müssen, verstehen sie das Waage-Modell für mathematische Gleichungen schneller.
- Die Schüler und ihre Interessen sind unterschiedlich - das ist auch gut so - und auch ihre Abstraktionsfähigkeiten. Hast du einmal Kant oder Marcuse gelesen? Dann weißt du, wie komplex Texte sein können. Vergleiche damit die Texte aus Gesamt- oder Realschulbüchern wie z.B. "Erlebnis Physik", in denen kurze Sätze, kaum Nebensätze, einfache Begriffe und Gedankengänge vorherrschen. Damit kannst du keinen auf Jura oder universitäre Philosophie vorbereiten.
- es sind ja, wenn man's nicht nur oberflächlich anschaut, nicht die gleichen Ziele! Das erlebe ich alljährlich, wenn Realschüler in unsere Mathe-Oberstufenkurse dazukommen. Bei Beweisen, Definitionen, Übertragung von Strukturen auf andere Zusammenhänge erlebe ich blankes Entsetzen, weil sie zuweilen keine Ahnung haben, was wir da überhaupt machen. Logisches Herleiten ist ein anderes Bildungsziel als das kompetente Ausrechnen auf einem zuvor gezeigten Weg. Und Ähnliches kannst du auch für Deutsch, Erdkunde, Kunst zeigen. |
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