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Forum: "ADHS"
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| ADHS | | von: ninniach
erstellt: 13.12.2008 16:41:59 |
In meiner ersten Klasse ist ein Mädchen, das von Anfang an Probleme hatte, sich an Regeln zu halten. Sie versucht dauernd, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, fühlt sich von anderen schnell geärgert und reagiert darauf unangessen Aggressiv. Es hat etwas gedauert, bis ich für mich klar bekommen habe, dass das kein Erziehungsproblem ist, sondern sie die Umwelt einfach völlig anders wahrnimmt und dann für ihre Wahrnehmung angemessen reagiert. Wenn ich mir die Diagnosekriterien für ADHS anschaue, dann müsste sie eigentlich damit diagnostiziert werden. Sie war schon zu einer ersten Untersuchung beim SPZ, in den Weihnachtsferien steht eine weitere an.
Ich bin jetzt etwas hilflos, weil sich die Eltern dauernd kontraproduktiv verhalten. Soll heißen, dass sie sich an Vereinbarungen mit mir nicht halten.
Beispiele: Wir hatten es mit einem Verstärkerplan versucht und als sie endlich ihre Punkte gesammelt hatte, was eine unheimlich große Anstrengung und Leistung von ihr war, musste ich die Eltern dreimal anstoßen, damit sie dann endlich drei Wochen später ihre Belohnung bekam. Es ist vereinbart, dass die Eltern mit der Erziehungsberatung arbeiten, aber diese Termine nehmen sie inzwischen auch nicht mehr wahr. Sie erzählen dem Kind sinngemäß "Entweder du funktionierst, oder deine Lehrerin (also ich) wirft dich von der Schule". Das war für das Mädchen so anstrengend, dass sie morgens schon auf 180 war, noch bevor sie in die Schule kam und wir alle nur Stress hatten. Inzwischen haben wir das zwischen uns geklärt, dass ich sie gar nicht loswerden will und das hat sie sofort sehr entspannt.
Eigentlich bräuchte sie sehr viel Rückhalt, aber die Eltern scheinen ihr permanent zu signalisieren, dass sie mit ihr unzufrieden sind und sehen überhaupt nicht die Fortschritte, die sie schon gemacht hat. Das heißt, das ich in Elterngesprächen diese immer wieder und wieder anführen muss und gleichzeitig dem Mädchen einfach so eine Grundsicherheit fehlt. Im Augenblick ist sie sehr stark auf mich fixiert, vielleicht weil sie in mir (zum ersten Mal?) jemanden hat, der sagt, dass ihr Verhalten zwar nicht immer okay ist, aber sie trotzdem willkommen ist und auch vieles gut kann. Im Grunde habe ich das Gefühl, dass die Eltern überhaupt nicht wirklich wissen, wie sie ihr helfen könnten.
Über die Untersuchung erfahre ich immer nur Bruchstücke: Zwar sagten die Eltern, das SPZ hätte Medikamente empfohlen, die sie aber ablehnen, aber gleichzeitig sagen sie, dass kein ADHS und auch sonst nichts festgestellt wurde. Das verwirrt mich sehr. Erstens weil ich das Gefühl habe, dass das bei ihr einfach ADHS sein *muss*, weil ich genau sehe, wie gefangen sie in dieser Situation ist. Zweitens weil ich sonst die Medikamente nicht verstehen kann.
Ich suche jetzt keinen Weg, wie das Kind im Unterricht besser funktionieren kann. Ich denke, ich bin da auf einem guten Weg, vor allem, wenn ich sehe, welche Fortschritte sie gemacht hat. Ich hätte nur gerne, dass ich nicht die einzige bin, die versucht, dem Kind zu helfen und es zu unterstützen auf diesem Weg, sondern dass sich die Eltern einklinken. Ich habe sie jetzt erstmal an einen Psychologen verwiesen. Vielleicht kann er ja mehr herausfinden und den Eltern Wege empfehlen, ihr zu helfen.
Ich suche allerdings nach Wegen, wie ich den Eltern helfen kann. Ihre einzige Sorge ist zur Zeit, ob das Kind denn dann mal aufs Gymnasium gehen kann, wenn wir jetzt einen besonderen Förderbedarf feststellen oder ob es nicht ein Rezept dafür gibt, wie das Kind plötzlich funktionieren kann. Eine Art Schalter oder so. Dass der Vater zwar recht gut, die Mutter allerdings kaum Deutsch spricht, macht die Sache nicht unbedingt leichter. Vielleicht haben ja andere betroffene Eltern oder Lehrer Erfahrungen damit, wie man den Eltern helfen kann, ja, mit dem Kind zu *leben* und nicht nur dauernd zu versuchen, das Kind in eine Form zu pressen, in die es wohl nie passen wird. Gibt es (einfache) Informationsmaterialien, Selbsthilfegruppen, Adressen oder ähnliches?
Eine Diskussion über die Existenz von ADHS oder die Sinnhaftigkeit/Sinnlosigkeit von Medikamenten möchte ich an dieser Stelle vermeiden, denn Fakt ist, dass dieses Kind anders ist, die Welt anders Wahrnimmt und anderes braucht. Nur, wie bringe ich das den Eltern bei? |
| Etwas wahrhaben wollen | | von: bger
erstellt: 13.12.2008 19:18:47 |
Ich denke, es ist für Eltern schwer, sich einzugestehen, dass ihr Kind anders als erwartet ist. Es gibt auch viel mehr Leute, als wir glauben, die keine Ahnung von ADHS haben. Selbst ich als Lehrerin war erstaunt, wie viel ich nicht darüber wusste, als ich mich - aus familiär gegebenem Anlass - näher mit der Thematik beschäftigte!
Mein Rat: Versuche an Informationsmaterialien für die Eltern heranzukommen, am besten auch in ihrer Muttersprache (türkisch?).
Außerdem: wenn das Kind einen Psychologen aufsucht, versuche die Eltern dazu zu bekommen, ihn von der Schweigepflicht zu entbinden, damit du weißt, was er herausgefunden hat und besser mit ihm zusammenarbeiten kannst. |
| @sopaed | | von: bger
erstellt: 14.12.2008 13:50:10 |
Das ist meiner Meinung nach kein Widerspruch. Dass das Mädchen wohl ADHS hat, ist nicht auf irgendwelche Erziehungsprobleme zurückzuführen - ADHS ist eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung. Die Eltern können aber damit nicht umgehen und sind nicht kooperativ. Dem Kind kann aber nur geholfen werden, wenn alle zusammenarbeiten.
Könnte es sein, dass dein Nick "sopaed" bedeutet, dass du Sozialpädagogin bist? Darauf deutet mir auch dein Schlusssatz hin. Ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass es oft Verständigungsprobleme zwischen Sozialpädagogen und Lehrern gibt, weil beide eine unterschiedliche Sichtweise haben. Da wird schnell der Ton etwas aggressiver, weil die Sozialpädagogen nicht verstehen, dass wir zwar natürlich dem jeweiligen Kind helfen wollen, aber auch nicht auf alle Befindlichkeiten jedes Kindes sensibel eingehen können, wenn wir da 30 oder mehr vor uns haben. Als Lehrer muss man halt immer auch die Auswirkungen auf die Klasse vor Augen haben. (Sorry für die lange Abhandlung, aber ich habe zufällig gerade ein solches Gespräch hinter mir |
| @ sopaed | | von: ninniach
erstellt: 14.12.2008 14:06:44 |
Es ist für mich ein Unterschied, ob ein Kind nicht in der Klasse zurechtkommt, weil es zwar die Regeln des Miteinander kennt, aber diese ihm nicht wichtig sind und es diese mal mehr, mal weniger ignoriert. Solch ein Kind könnte, wenn es wollte, hat aber unter Umständen im ersten Schuljahr Probleme, weil es zum Beispiel von zu Hause aus keine Regeln kennt. Das ist für mich ein Problem, das aus dem Erziehungsstil der Eltern heraus erwächst.
Dann gibt es Kinder, die versuchen wirklich sehr, mit anderen zurechtzukommen, aber es klappt einfach nicht. So ist das bei dem Kind aus meiner Klasse. So sehr sie auch möchte, sie kann oft nicht anders, als sie tut. Das heißt für mich, dass Ursache dieses Problem nicht die Erziehung ist, sonder das Problem an anderer Stelle liegt.
Schlag mir doch mal vor, welche Ressourcen ich nutzen könnte. Vielleicht nutze ich sie ja schon längst, aber würde mir wünschen, dass die Eltern diese auch nutzen würden und nicht nur ständig das Kind mit seinen Defiziten unter Druck setzen würden. Und deswegen ist meine Frage jetzt, wie ich die Ressourcen der Eltern mobilisieren kann, damit sie lernen, besser mit dem Kind umzugehen. So wie es sich für mich darstellt, sind sie zur Zeit einfach nur genervt und suchen nach einem Rezept, das ihr Kind "normal" macht.
Noch ein kurzer Nachsatz zum Thema ressourcen-orientiert: Unser System steht einem ressourcen-orientierten Arbeiten häufig im Weg. Leider. Ich kann mich zum Beispiel nicht den ganzen Tag neben das Mädchen setzen und sie bei der Stange halten, solange ich noch andere Kinder in der Klasse habe. Obwohl ich genau weiß, dass ihr das sehr viel weiterhelfen würde.
Allen anderen vielen Dank für die Tipps. Habe sofort die Telefonnummer rausgesucht für unseren Bezirk.
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| @ sopaed | | von: ninniach
erstellt: 14.12.2008 18:19:24 |
Ich erwarte, wie ich weiter oben geschrieben habe, Anregungen von betroffenen Eltern oder Lehrern. In erster Linie wären für mich jetzt aber selbst betroffene Eltern hilfreich. Ich weiß, dass es hier solche gibt, darüber bin ich erst vor kurzem in einer Diskussion gestolpert.
Ich hatte nicht erwartet, dass jemand davon ausgeht, ich wäre nur an Defiziten orientiert, wenn es mir eigentlich darum geht, die Eltern von genau dieser Perspektive wegzubringen. Und das ist meines Erachtens jetzt extrem wichtig, denn ich alleine kann nicht viel ausrichten, wenn die Eltern dem Mädchen immer wieder signalisieren, dass sie nicht okay ist und das Mädchen dadurch unter einem extremen Druck steht, den sie irgendwie abbauen muss.
Und ja, auch in diesem Medium erwarte ich Hilfe in Form von Anregungen oder eigenen Erfahrungen anderer. Wie sinnvoll die dann ist, wird sich zeigen. Ich weiß auch, dass du jetzt nicht haarklein sagen kannst, wie man den Eltern helfen könnte. Genauso wenig kannst du einfach so aus dem Bauch heraus über mich urteilen. Nur noch mal wegen defizitorientiert. Wenn ich das wäre, dann wäre sie schon längst nicht mehr in der Klasse - den Weg hätte ich schon längst gehen können aufgrund ihres Verhaltens.
Falls du noch mitliest: Was schlägst du denn vor, wie man Kindern helfen kann, die mit der Arbeit nicht anfangen können, die sofort, wenn etwas nicht nach ihrer Vorstellung funktioniert, wütend werden, die nicht ertragen können, wenn sie mal nicht drankommen mit etwas und die immer wieder von ihrer Wut so weggespült werden, dass sie mit diversen Gegenständen werfen, nach allem und jedem, was im Weg steht, schlagen und treten und die sich nur selten so verhalten, dass sie mit niemandem aneinander geraten? Was glaubst du, ist mit solchen Kindern los? Wie kann man den Eltern wieder beibringen, ihrem Kind Zuwendung zu geben und ihm nicht dauernd nur vorzuhalten, was es nicht kann.
Mir ist auch klar, dass die Diagnose ADHS umstritten ist, aber mir ist im Laufe der Zeit mit dem Mädchen klar geworden, dass WENN ein Kind diese Krankheit hat, das sie. Sie kann einfach ihr Handeln sehr schlecht steuern und ich vermute, dass ihr Gehirn gewisse Dinge nicht so filtert, wie es bei uns anderen der Fall ist. Da liegt für mich schon nahe, dass ein Botenstoff fehlen könnte. Das gibt's ja auch nicht nur bei ADHS. |
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