Wenn wir Kinder und ihre Probleme verstehen wollen, müssen wir davon ausgehen, dass u.a. auch Lehrer das Problem sein oder verursachen können.
Ich habe immer wieder ein Ich-kann-Schule-Schlüsselerlebnis mit Martin berichtet, der in der 4.Klasse zu mir kam.
In Deutsch immer die Note 6 und einmal deswegen sitzengeblieben, ließ man ihn statt Aufsätze eine Seite aus dem Lesebuch abschreiben und beim Diktat bekam er einen Lückentext, in den er nur die "gelernten Wörter" einsetzen musste.
So übte er mit jedem Buchstaben, den er schrieb, ein, dass er nie richtig schreiben können werde.
Ich beendete den Unfug.
Bei mir schrieb Martin das ganze Diktat und den Aufsatz.
Von den 2 1/2 Seiten konnte ich nur wenige Wörter verstehen.
Ich bat ihn, mir das vorzulesen.
Er konnte die 2 1/2 Seiten flüssig lesen, die ich Lehrer nicht lesen konnte.
Es war eine starke Geschichte.
Martin hatte sich - trotz Unterricht - ein eigenes, funktionierendes Schreibsystem erschaffen.
Und dafür bekommt man in unseren Unterrichtsvollzugsanstalten immer die Note 6 und wird zum amtlich bescheinigten Versager ausgebildet.
Unterricht richtet - was an solchen Beispielen nicht zu übersehen ist - nach unten.
Ich hatte nie vor, Martin zu unterrichten.
Ich bin ja kein Unterrichter sondern LEHRER.
Unterrichter machen Druck und richten i.A. nach unten - da will keiner hin.
LEHRER sind in der Ich-kann-Schule mitreißendes Vorbilder für LERNEN und haben daher SOG-Wirkung und die zieht NACH VORNE- da wollen alle hin.
Ich hielt Martin eine Standpauke, nein, ich ließ sie los:
"Wer so tolle Geschichten schreiben kann, der kann doch auch richtig schreiben!.............."
Das machte eine neue Atmosphäre.
Martin bereitete seine nächste Nachschrift nicht mehr als Versager vor sondern als KÖNNER - und schrieb sie FEHLERFREI.
Die TALENTE der Kinder sind FEINE Geistes- und Seelenkräfte, viel zu fein für grobe, plumpe Druck-Pädagogik.
Ich habe sehr oft beobachtet und durch Experimente überprüft, wie sich gerade die feinsten, genialsten Kräfte vor verfehlter, verletzender, kränkender Pädagogik zurückziehen und durch Flucht in Sicherheit bringen.
Es wirkt mehr als zynisch, wenn man dann einen IQ-Test macht und so tut, als hätte es nie eine Intelligenz bei dem Kind gegeben.
Ich habe immer wieder erlebt, dass die sog. "Legastheniker" nicht schlechter sondern BESSER rechtschreiben können als ihre Mitschüler - wenn die Bedingungen für Talente und ihr Wachstum gut sind.
Wir vergessen immer wieder, dass nicht nur der Körper HUNGER hat und reichlich, regelmäßig und gut STÄRKUNG braucht, sondern auch die entscheidenden Kräfte von Geist & Seele.
Von Üben, Üben, Üben werden Talente nicht satt sondern matt (Burnout) und platt (Depression). Unsere Modekrankheiten sind weithin durch eine lebensblinde Pädagogik verursacht und großgemacht.
Die wichtigste Hilfe für Kinder, die wir als "Legastheniker" zu behandeln gewohnt sind, ist, dass wir aufhören, Kinder zu Legasthenikern zu machen. "Kinder zu Legasthenikern machen, das zerstört die Persönlichkeit" habe ich als Untertitel für mein LegastheNIE-Buch gewählt.
Ich kenne auch niemand, der es wagen würde, seinen Chef als Volltrottel zu behandeln, auch wenn er einer ist.
In der Hierarchie NACH OBEN fällt es uns anscheinend sehr viel leichter, pädagogisch intelligent zu handeln.
Drum gibt es in der Ich-kann-Schule eine einfache Kernregel für gute Pädagogik: "Probiere das, was du mit Kindern vor hast, zuerst mit deinem Chef aus!"
Ich wünsche guten Erfolg.
Franz Josef Neffe