Das Maß aller Dinge?
Was Zensuren über die Qualität von Lernergebnissen sagen - und was nicht
Lassen Ziffernzensuren Eltern genug erfahren über Ergebnisse, Lernstände und erreichte Kompetenzen ihrer Kinder? Geben sie Lehrerinnen und Lehrern genug Informationen, um den Unterricht auf die Lernbedürfnisse ihrer Schützlinge einzustellen? Können sich die "Abnehmer" von Schule eigentlich wirklich informiert fühlen, wenn sie die Zensuren einer Bewerberin sehen? Und wie differenziert wissen die Schülerinnen und Schüler um ihre Lernfortschritte, Lerndefizite und Leistungsfähigkeiten?
Allesamt herzlich wenig, so die Kritik, die mit den PISA-Ergebnissen wieder neue Impulse erhalten hat: Wer Lernprozesse steuern, fördern, verbessern will, braucht differenzierte Informationen und klar ausgewiesene Maßstäbe. Und wer vergleichen und auswählen muss, um brauchbare Mitarbeiter zu finden, muss letztlich wissen, mit welchen Kenntnissen und Fähigkeiten gerechnet werden kann. Das deutsche Bildungssystem verlässt sich auf Zensuren und kennzeichnet damit in erster Linie, wo sich der bzw. die Lernende leistungsmäßig innerhalb der jeweilige Gruppe (Klasse, Kurs) befindet. Was_ jemand weiß oder kann, ist an der Zensur nicht abzulesen. PISA hat gezeigt, dass in unserem Bildungssystem die Lehrenden nicht sehr zuverlässig einschätzen können, welche spezifischen Leistungen einzelnen Kindern und Jugendlichen zuzutrauen sind und welche konkreten Defizite zu bearbeiten sind. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass unser schulisches Bewertungssystem nur sehr pauschal Auskunft gibt über den Erwerb von Fähigkeiten, Einstellungen und Kenntnissen?
Kein Zweifel - bei Fachlehrkräften der Jahrgangsstufe_ 9 entsteht bei der Aussage "Erichs Leistungen in Französisch sind befriedigend" ein mehr oder minder klares Bild, was Erich zu leisten im Stande ist. Dennoch werden auch sie sich kaum Rechenschaft darüber geben können, worauf sich "befriedigend" bezieht:
auf Unterrichtsstandards, also auf bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse im Umgang mit der französischen Sprache?
auf Erichs Lernverhalten?
auf den Vergleich zu den Mitschülerinnen und Mitschülern in der Klasse, im Kurs oder in der Jahrgangsstufe?
auf Erichs vorausgehende Leistungen und seine individuelle Leistungsentwicklung?
oder sogar auf alle drei Aspekte zugleich - aber mit welchen Anteilen der Gewichtung?
Versetzen wir uns in die Situation des Abnehmers oder Nutzers von Zeugniszensuren. Der fiktive Erich will nach seiner Schulzeit ein Praktikum in einem Hotel in Nantes ableisten. Was erfährt der französische Personalmanager über Erichs kommunikative Fähigkeiten in Französisch, wenn er auf dem Zeugnis "befriedigend" liest? Wie kann er sich Gewissheit verschaffen, ob der junge Mann den Anforderungen beim Einsatz in der Rezeption standhält, ob er ohne Panik in französischer Sprache telefonieren kann? Eigentlich müsste er die schulformspezifischen Lehrpläne des Landes lesen, um der Note entsprechende Fachleistungen zuordnen zu können. Man sagt, dass allein die Lehrpläne in den "alten" Bundesländern einen Umfang von mehr als 500.000 Seiten haben. Und die müsste der Manager lesen, um die Zensur zum Sprechen zu bringen.
Ein anderes Beispiel. Mit der verpflichtenden Einführung der Parallelarbeiten in Nordrhein-Westfalen ist die Absicht verbunden, über die Auswertung der Schülerarbeiten an mögliche Schwachstellen des Unterrichts zu gelangen. Auf diesem Wege sollen Lehrerinnen und Lehrer über Strategien und Maßnahmen nachdenken, wie man für spezifische fachliche Defizite durch Unterrichtsentwicklung Abhilfe schaffen kann. Parallelarbeiten stehen also vorrangig im Dienst der Qualitätsentwicklung. Eine erste vorläufige Analyse von Schulberichten zur Durchführung von Parallelarbeiten in der Jahrgangsstufe 9 zeigt, dass der Vergleich der Lerngruppenleistungen fast ausnahmslos über den Vergleich von Notenspiegeln vollzogen wird. Wen wundert es, wenn die Lehrerinnen und Lehrer überwiegend zu dem Urteil kommen, dass es zwischen den parallelen Lerngruppen kaum signifikante Unterschiede gibt. Natürlich gehört es zum schulischen Habitus, die Vergabe von Zensuren auch an die soziale Norm zu binden, so dass sich die Leistungsnoten in ihrer Häufigkeit mehr oder minder stark der Normalverteilung annähern. Und aus dem Vergleich von zwei annähernd normal verteilten Datenmengen lassen sich kaum Schlüsse für die Analyse von Unterricht und keine Strategien zur Optimierung von Lehr- und Lernprozessen ableiten.
Ein letztes Beispiel, wie sich die Problematik der Ziffernzensuren an den Schnittstellen des Bildungswesens auswirkt. Alle Kinder lernen demnächst in den Klassen 3 und 4 der Grundschule Englisch. Die Lehrkräfte des Englischunterrichts an weiterführenden Schulen wollen wissen, was die Schülerinnen und Schüler kennen und können, wenn sie in die Klasse 5 kommen. Schließlich soll der Unterricht die Schülerinnen und Schüler dort abholen, wo sie ankommen. Was nutzt es den Lehrkräften für die didaktisch-methodische Planung, wenn sie die Zensuren abfragen? Ergiebiger wäre es, wenn sie z.B. wüssten, mit welchen kommunikativen Situationen und welchen Sprechakten sich die Kinder befasst haben. Das Problem stellt sich in gleicher Weise für andere Fächer und andere Schnittstellen, z.B. beim bergang von der Klasse 10 in den berufsbildenden Bereich. Kann man etwa die Ausbildungsreife an der Durchschnittszensur ablesen?
Der Blick ins Ausland
Dass sich mit Ziffernzensuren nur mühsam verlässlich über die Qualität von Unterricht oder von Lernergebnissen kommunizieren lässt, führt bildungspolitisch im europäischen Raum schon zu Konsequenzen. Zum Beispiel fordert das Weißbuch der EU-Kommission "persönliche Kompetenzausweise" und somit Leistungsnachweise, die in klarer und verständlicher Sprache Auskunft geben, was jemand zu leisten vermag. Ziffernzensuren leisten das nur begrenzt. Und auch die herkömmlichen Lehrpläne erschweren eher eine "bersetzung" der Leistungsnote in ein Könnensprofil, denn die curricularen Aussagen sind meist zu komplex und ausdeutbar. Sie signalisieren anzustrebende Maxima, die nur von einer Minderheit von Schülerinnen und Schülern erreicht werden, und keine tragfähigen Grundlagen für alle.
An vielen Orten - vor allem außerhalb unseres Landes - haben Entwicklungen eingesetzt, die dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Transparenz der Leistungsfeststellung und nach "persönlichen Kompetenzausweisen" entsprechen.
Einerseits wächst die Zahl der Leistung dokumentierenden Sammelträger unter wechselnden Namen, z.B. Bildungspass, Berufsbildungspass, Europass, Qualifikationsbuch und Portfolio. Die Eingabe der Stichwörter "Portfolio" und "education" / "Bildung" / "Schule" in einer der leistungsfähigeren Internet-Suchmaschinen fördert Tausende von Dokumenten zutage. Portfolios gehören in den USA zum schulischen Alltag. Sie setzen sich auch in Skandinavien und in den Niederlanden (hier vor allem in der Sekundarstufe II) durch. Sie spezifizieren, was die Person kann und was sie für ihr eigenes Lernen getan hat und geben Belege dafür anhand konkreter Beispiele und "Werkstücke". Selbst Lehrkräfte legen in diesen Ländern für sich selbst Portfolios an, mit denen sie sich bei Beförderungen oder Bewerbungen ausweisen. In diesen Portfolios listen sie nicht nur ihre Berufserfahrung auf, sondern reflektieren auch über ihren Unterricht bzw. über besondere Projekte, mit denen sie die Qualität ihres Unterrichts weiterentwickeln wollten.
Die Arbeit mit Portfolios, Lerntagebüchern und anderen Dokumentationsformen hat nicht nur zum Ziel, Leistungsfähigkeit in konkreter Form nachzuweisen, sondern auch die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, sich mit der eigenen Leistungsfähigkeit auseinander zu setzen. Selbstständiges Lernen - z.B. in der gymnasialen Oberstufe und in den Bildungsgängen am Berufskolleg - beinhaltet notwendigerweise auch Selbstevaluation. Der realistische Umgang mit den eigenen Leistungen und der eigenen Leistungsfähigkeit gehört zu den Schlüsselkompetenzen, die in modernen Gesellschaften nachgefragt sind. Natürlich muss die Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen, gelernt und durch entsprechende Lerngelegenheiten und Lernaufgaben schulisch angebahnt werden. Voraussetzung dafür sind Transparenz der Lernziele und die Verfügbarkeit von Diagnoseinstrumenten - nicht nur für das Leseverstehen, wie wir aus PISA gelernt haben, sondern auch für soziale Kompetenzen und das allgemeine Lernverhalten. "Kopfnoten" wären sicherlich in dieser Hinsicht ein Schritt zurück. Aber ein Dossier, in dem Schlüsselaufgaben für das soziale Lernen nach Jahrgangs- bzw. Altersstufen aufgelistet sind und in dem die Schülerinnen und Schüler dokumentieren können, ob und wie die diese tatsächlich bewältigt haben und dort auch noch Gelegenheit haben, darüber zu reflektieren, wäre - aus in internationaler Perspektive - ein Schritt nach vorn.
Weiterhin lässt sich feststellen, dass die außerhalb von Schule angesiedelten Zertifikate Hochkonjunktur haben. Das gilt sicherlich in erster Linie für die Fremdsprachen. Eingeweihten werden die Kürzel DELF/DALF, APIEL, TEFL, CAMBRIDGE etwas sagen. Sie wissen, welche Kompetenzen man erwarten kann, wenn Schülerinnen und Schüler mit Erfolg an solchen Zertifikatsprüfungen teilgenommen haben. Mit dem "Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen: lernen, lehren, beurteilen" des Europarats und den dort aufgeführten Kompetenzstufen und den Indikatoren gewinnen diese Zertifikate - auch in internationaler Hinsicht - noch mehr an Transparenz und Akzeptanz.
Nun muss für den Schulbereich die Brücke zwischen fachbezogenen Kriterien einerseits und den Zeugnissen und Zensuren andererseits geschlagen werden. Bringt man beides zusammen, die Beschreibung der angestrebten Endkompetenzen eines schulischen Kurses und die Ziffernzensuren, dann könnte man sich über Qualität verlässlich verständigen. Auf dem Zeugnis könnte z.B. stehen
Französisch: befriedigend
(Ziel: Kompetenzstufe B1 des Gemeinsamen
Europäischen Referenzrahmens)
Der Personalchef in Nantes wüsste sofort, dass der Praktikant aus Deutschland telefonisch Auskünfte allgemeiner Art geben und einholen kann - oder er würde sich in Minutenschnelle durch einen Blick in eine doppelseitige Synopse darüber informieren können, was B1 bedeutet.
Lehrpläne für den Fremdsprachenunterricht der gymnasialen Oberstufe und der Lehrplanentwurf für den kommenden Englischunterricht in der Grundschule stützen sich in Nordrhein-Westfalen bereits auf das Kategoriensystem des Referenzrahmens. Was jetzt fehlt, ist die Abstimmung der Länder über die Kompetenzstufen, die am Ende eines Bildungsabschnittes erreicht werden sollen.
Schließlich muss mit Blick auf andere Länder und ihre Bildungssysteme von benchmarks, attainment targets, outcomes oder exit criteria die Rede sein. Immer deutlicher wird, dass ein Bildungssystem in einer demokratisch verfassten Gesellschaft in allgemein verständlicher Form vermitteln muss, welche fachlichen Leistungen und sozialen und kognitiven Kompetenzen sich "hinter" den Zensuren verbergen. Der Zusammenhang zwischen Zensur und Kompetenz sollte nicht nur für den Experten deutbar sein, also für die Lehrkräfte selbst. Stärker rückt der Kriterienbezug der Leistungsbewertung in den Vordergrund - und damit die allgemein verständliche curriculare Definition einer überschaubaren Zahl von beobachtbaren End- und Zwischenkompetenzen für die einzelnen Bildungsabschnitte. Solche benchmarks, wie sie in vielen Ländern üblich sind, würden in unserem Bildungssystem für mehr Redlichkeit und Transparenz in der Diskussion über Unterrichtsqualität sorgen.
Rück- und Ausblick
Zensuren waren das Maß aller Dinge, als man weiterführende Bildung sowie attraktive Berufs- und Lebenschancen nur einem kleineren Teil der Gesellschaft vorbehalten hat. Die Auswahl der erfolgreichen Lerner und Lernerinnen musste einigermaßen gerecht vollzogen werden. Daher bezogen sich die Zensuren immer auch in starkem Maße auf die soziale Norm, also auf die Lerngruppe oder die Schülerinnen und Schüler in einer Jahrgangsstufe an der jeweiligen Schule. Wer sich dann im oberen Drittel befand, dem traute man zu, sich auch außerhalb der Bezugsgruppe erfolgreich durchsetzen zu können. Die Zensur war also auch das Maß der Durchsetzungsfähigkeit in einem hoch selektiven System.
Moderne demokratisch verfasste Gesellschaften sehen in Bildung die wichtigste Ressource. Sie setzen den Anteil der jungen Menschen, die sich wenigstens auf dem Niveau der Fachhochschulausbildung befinden, für die Zukunft mit 50 bis 70 Prozent an. Mit einer solchen Perspektive ist man eher an der nachhaltigen Qualitätssicherung von Bildung interessiert als an der Auslese und ihrer Rechtfertigung. Und auch der Anteil der jungen Menschen, die sich nicht für Fachhochschule und Hochschule qualifizieren, soll sich für das Beschäftigungssystem so ausweisen, dass Ausbilder und Arbeitgeber erkennen können, wo und wie diese jungen Erwachsenen beruflich eingesetzt und weiter gebildet werden können. Hier ist mehr Information gefragt, als Ziffernzensuren und herkömmliche Zeugnisse leisten können.
Was also sind die Konsequenzen aus diesen berlegungen? Ziffernzensuren abschaffen und durch Leistungsberichte oder Leistungsdokumentationen ersetzen? Wohl kaum. Die schulpraktischen Erfahrungen im Umgang z.B. mit dem Europäischen Portfolio der Sprachen haben gezeigt, dass persönliche Leistungsnachweise keine Alternative zu Ziffernzensuren sind. Beides kann sich wechselseitig ergänzen: kriterienbezogene Leistungsnachweise definieren positiv, was jemand kann - Ziffernzensuren spiegeln zunächst stärker den Erfolg des Einzelnen in seiner Gruppe wider. Schulen, die mit persönlichen Leistungsnachweisen und klaren Kriterien für die Selbst- und Fremdevaluation von Lernleistungen arbeiten, wünschen sich auch für die Zensuren eine verlässlichere Grundlage im Sinne konkreter Kriterien, die auch für Schülerinnen und Schüler verständlich formuliert sind. Wir brauchen also eine Lehrplanentwicklung, die sich in klarer Sprache und schulpraktischer Redlichkeit auf fachliche und soziale Kernkompetenzen konzentriert. Solche Lehrpläne tendieren eher zu Kerncurricula als zu umfassenden idealisierenden Beschreibungen, was im Unterricht unter bestimmten Bedingungen möglich ist.
Eike Thürmann
Quelle:http://www.forumschule.de/fs08/magztp.html