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Forum: "Beliebte Elternfrage: Wie kommen denn alle auf einen Stand????"
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| Beliebte Elternfrage: Wie kommen denn alle auf einen Stand???? | | von: clausine
erstellt: 12.09.2010 13:36:23 |
Liebe KollegInnen, besonders diejenigen aus den Grundschulen,
ich habe einen Elternabend vor der Brust, vor dem es mir jetzt schon
graut. Ich habe eine 3. Klasse übernommen, die heterogener nicht sein
könnte: 3 Kinder mit "Behinderungen" verschiedenster Art, ein
wahrnehmungsgestörtes Kind, das keine 10 Sekunden bei der Sache
bleiben kann, 12 türkische Kinder mit unterschiedlichen
Deutschkenntnissen, 1 russisches mit Superdeutschkenntnissen, 12
deutsche Kinder, davon einige mit Schicksalen, die sie kurz- oder
langfristig am Lernen hindern. Mein "schnellstes" Kind braucht für eine
Aufgabe 30 Sekunden, mein "langsamstes" für die gleiche Aufgabe 1
Stunde 15 Minuten!!!!! So etwas habe ich noch nie erlebt.
Ich bin jetzt dazu übergegangen, zeitlich flexible Hausaufgaben
aufzugeben, so z.B. 30 Minuten im Mathebuch S. x bis y, oder ähnliches
im Fach Deutsch.
Nun kommt natürlich o.g. beliebte Elternfrage: Wie kommen denn alle
auf einen Stand??? Ich sag: GAR NICHT! Sag ich erst mal zu mir selber,
denn das ist FAKT.
Wie sag´ich´s meinen Eltern?????? Ist es nicht meine Aufgabe, die Ziele,
die im Lehrplan verankert sind, zu erreichen?? Ich weiß jetzt schon, dass
ich dies, bei allen Bemühungen, Differenzierungen usw., nicht schaffen
werde...... |
| . | | von: palim
erstellt: 12.09.2010 15:31:39 geändert: 12.09.2010 15:32:51 |
Kennst du die Karikatur aus den Preuss-Büchern, bei der ein Lehrer vor verschiedenen Tieren (Elefant, Affe, Goldfisch im Glas...) und ihnen die Aufgabe stellt, auf einen Baum zu klettern?
Im Internet zu finden unter
http://bidok.uibk.ac.at/library/schueler-kommentare00.png
Diese Karikatur habe ich auf einem Elternabend (Klasse 2 vor den Zeugnissen) gezeigt und den Eltern (schön wie im Pädagogik-Lehrbuch) erklärt, warum es unsinnig ist, alle Schüler auf einen Stand bringen zu wollen.
Das hatte ich mir vorab aufgeschrieben - auf dem Elternabend habe ich es mit eigenen Worten erklärt.
(Bild zeigen)
Wer schafft das?
... der Vogel fliegt schnell hinauf
... der Affe klettert drauf
Wer schafft das nicht?
à Die Aufgabe des Lehrers ist, möglichst jedem Schüler zu ermöglichen, die Aufgabe zu erfüllen.
... dem Hund kann ich eine Brücke bauen, indem ich eine Latte anlege
... der Elefant braucht etwas Stabileres – vielleicht eine Rampe?
... und der Fisch?
... vielleicht braucht der Fisch einen Baum unter Wasser
Jeder Schüler hat Stärken ... und muss gefördert werden, um Ziele zu erreichen.
Einigen fällt manches zu – ohne weiteres Zutun
Einige mühen sich ... und ohne Hilfe schaffen sie es nie auf den Baum.
Meine Aufgabe ist es, die Stärken zu erkennen,
die Brücken richtig zu bauen,
Hilfsmittel anzubieten, erneut zu erklären, nachzuhaken
manchmal auch ausprobieren, scheitern und neu probieren
Hätte die Aufgabe geheißen: Reißt den Baum aus! Dann wären andere Stärken wichtiger gewesen.
Wer hat denn die Aufgabe erfüllt?
Nur der Vogel und der Affe, weil sie es ohne weitere Hilfe schaffen?
und der Hund, weil er nur das Brett brauchte, sonst aber alles geschafft hat?
oder alle?
Und
wie soll der Lehrer hinterher die Leistungen bewerten?
Bekommt der Vogel eine 1? Obwohl er ja nichts dazu gelernt hat!
Oder der Fisch?
Im Zeugnis könnte stehen: Du hast es mit Hilfsmitteln geschafft, auf den Ast zu gelangen. Beim nächsten Mal geht es schon besser!
Oder: Deine Kletterkünste reichen aus, um den Ast zu erreichen. Aber du bist kein wirklich guter Kletterer.
Oder: Klettern ausreichend (4)
Welche Bemerkung ist für Sie als Eltern deutlich?
Welche Bemerkung ist für das Kind gut?
Und der Schuhschnabel?
Der bleibt vielleicht trotz aller Hilfen, Anregungen, Bemühungen, Aufforderungen
unten stehen und rührt sich kein Stück.
Vielleicht sagt er: Ich habe dazu keine Lust!
oder: Das ist mir egal!
oder: Das kann ich sowieso nicht!
oder: So etwas gehört sich nicht für einen Vogel.
Wie ist der zu bewerten?
Ich wollte Ihnen mit dem Bild zeigen, dass Unterricht vielschichtig ist.
Verschieden, immer anders – eine Herausforderung.
Hier sitzen 21 Kinder und alle haben besondere Begabungen.
Manche können prima Einrad fahren, manche können spitze lesen und verschlingen jedes Buch, dass ihnen in die Hände fällt.
Genauso gibt es Kinder, die können nicht so toll lesen oder fallen beim ersten Versuch vom Einrad und denken: Das gibt nur blaue Flecken, das lasse ich lieber!
Meine Aufgabe ist es, alle Schüler mitzunehmen
ihnen Hilfen zu geben,
so dass sie das, was sie können weiterhin gerne tun
und dass, was sie nicht können und ihnen vielleicht unmöglich erscheint,
immer besser verstehen und lernen und schaffen können.
Meine Aufgabe ist auch
ihren Kindern im Zeugnis aufzuschreiben, was sie können.
Dafür gibt es Vorgaben.
Alles, was ich aufschreibe, soll möglichst positiv klingen:
Also steht da nicht: Du kannst nicht gut genug lesen für die Mitte der 2. Klasse.
sondern: Du kannst zunehmend schnell und sicher lesen.
oder: weil du viel übst, wirst du nun immer besser im Lesen
Wenn ich diesem Kind im Unterricht mehr Zeit zum Lesen gebe oder einfachere Texte auswähle oder wenn ich verschiedene Lesetexte zur Auswahl hinlege,
dann kann ich unter das Zeugnis schreiben:
... hat an klasseninternen Fördermaßnahmen teilgenommen.
Das heißt:
Das Kind sitzt in der Klasse.
Ich bleibe die Lehrerin.
Wenn es Hilfe braucht, kann es fragen.
Wenn es nicht fragt und ich sehe, dass das Kind Schwierigkeiten hat, dann gehe ich hin und helfe ihm.
Manchmal lassen sich Kinder helfen, manchmal probieren sie es lieber allein.
Manchmal verstehen Kinder, dass ein Hilfsmittel gut ist – ein Zahlenstrahl, Rechenschiffchen, Klötze und Stäbe beim Rechnen ... der Finger beim Lesen oder gemeinsam Lesen oder langsamer lesen
Manche Kinder holen sich immer dann, wenn es schwierig wird, Hilfe oder Hilfsmittel.
Es gibt auch Kinder, die nehmen sich Hilfsmittel, weil ich immer sage: Holt euch die Hilfsmittel. Diese Kinder können dann zwar super rechnen, denken aber: sie sagt, ich soll die nehmen, also mache ich das.
Andere Kinder denken: Wenn ich mir jetzt Hilfe hole, dann denkt die Lehrerin, ich bin blöd. Also sitze ich hier und brüte über der Aufgabe und hoffe, dass sie das nicht merkt.
Unterricht ist heute nicht so, dass alle Kinder das Gleiche machen.
Es können nicht alle Kinder gleich gut auf Bäume klettern.
Kinder, die wie der Vogel, mal eben auf den Ast fliegen, müssen dort nicht sitzen und sich langweilen, bis auch die Robbe sich auf den Baum gequält hat.
Sie müssen auch nicht von oben auf die anderen gucken und sagen:
Guck mal, ich bin schon oben!
Besser ist es, wenn sie andere Aufgaben bekommen.
Kinder, wie der Elefant, denen manches schwer fällt,
müssen sich nicht von dem Vogel hänseln lassen.
Sie brauchen keinen, der ihnen sagt:
Sie zu, dass du auf den Baum kommst!
oder: Der Lehrer erwartet, dass du möglichst schnell da oben bist.
oder: Wieso bist du denn noch nicht oben auf dem Baum. Ich bin doch auch schon oben!
Solche Kinder brauchen Unterstützung von allen Seiten:
Leute, die ihnen sagen: Guck mal, auf diese oder jene Weise kannst du es probieren.
oder: Schritt für Schritt, ich passe auf und warte, bis du es geschafft hast.
Kinder, die wie der Schuhschnabel, einfach stehen bleiben,
wen brauchen die?
Einen, der ihnen sagt: Los komm, das kannst du auch!
oder: Hast du mich verstanden?
oder: Wenn du dir helfen lässt, ist es gar nicht so schwierig.
oder: Wenn du nicht magst, dann lasse ich dich in Ruhe (... aber dann wirst du die Aufgabe heute nicht schaffen und morgen vielleicht auch nicht.)
Vielleicht gibt es auch etwas, was der Lehrer nicht weiß:
- der Vogel ist faul und hat keine Lust
- der Vogel hat Bauchweh oder schlecht geschlafen
- der Vogel weiß nicht, was ein Ast ist
- der Vogel ist schon ein paar Mal vom Baum gefallen – seither traut er sich nicht mehr
- der Vogel ist gelangweilt und ihm ist die Aufgabe egal, weil er eigentlich schon lange fliegen kann und er ja für sich selbst weiß, dass er das kann
Manchmal gibt es Gründe, die der Lehrer nicht kennt,
dann rätselt er,
er fragt den Schüler – der antwortet aber nicht
er beobachtet den Schüler und versucht sich, einen Reim daraus zu machen.
Sie als Eltern kennen ihre Kinder gut.
Sie können mir vieles zu Ihren Kindern sagen.
Manches ist zu Hause sicherlich anders als hier, manches aber auch genau gleich.
Wenn man gemeinsam versucht, die Aufgabe zu lösen
und den Schülern Hilfen zu geben
und die Aufgaben lösbar zu machen,
dann ist den Kindern damit am ehesten geholfen.
Vielleicht muss man die Eltern ins Boot holen und ihnen immer wieder verdeutlichen, dass Schule nicht mehr so ist, wie sie es erlebt haben und es in den meisten Köpfen unserer Gesellschaft spukt.
Eine andere Möglichkeit wäre,
eine "normale" Aufgabe oder Kompetenz auszuwählen und dann anhand unterschiedlicher Förder- und Fordermaterialien, Wegen, Aufgabenstellungen zu zeigen, welche Differenzierung im Unterricht stattfindet.
Palim |
| gemeinsames Lernen | | von: missmarpel93
erstellt: 12.09.2010 16:33:50 |
Clausinchen, mach den Eltern klar - mit all den schon genannten Argumentationshilfen -, dass"gemeinsam Lernen" nicht gleichbedeutend ist mit die gleichen Ziele zur gleichen zeit zu erreichen. Ganz hilfreich ist auch immer das Bild einer Autobahn mit verschiedenen Fahrspuren und unterschiedlich motorisierten Fahrzeugen.
Erläutere allen noch einmal, was individualisiertes Lernen bedeutet, und vor allem, wie Du es in deinem Unterricht gedenkst umzusetzen. Stelle mindestens drei unterschiedliche Kompetenzniveaus dar, die "Stärkeren SuS" sollen ...,
die "Normalen" sollen ...,
die "schwächeren SuS" sollen in die Lage versetzt werden ...
Die Eltern wollen ohnehin nur hören, dass die Förderung der Schwächeren nicht zu Lasten ihrer Kinder geht, alles Weitere ist denen mehr oder weniger egal. |
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