Die Leichtigkeit trug sie herab vom Himmel, sosehr sie sich auch sträubte, gegen keinen, selbst noch so sanften, Luftzug hatte sie eine Chance. Kein Strecken, kein Biegen noch Flattern half, sie trieb unweigerlich ihrem Ende entgegen. Ein letzter Versuch. Mit aller Kraft streckte sie ihre Zacken von sich, breitete sich aus und wartete sehnsüchtig auf die eine Böe, die sie wieder in ihre heimelige Wolke zurücktreiben würde. Doch sie kam nicht.
Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und blickte sich um. Es war stockdunkel. Sie war ganz alleine. Alleinegelassen. Einsam. Um sie nur die unendliche Schwärze der Nacht und der grausame Wind. Er zog an ihr und zerrte, warf sie vor und zurück, ließ sie nach seinem Willen tanzen. Ängstlich sah sie nach oben, zurück zu ihrer Heimat, der großen dicken Wolken.
Würden sie ihr folgen?
Nein. Keiner kam ihr nach, keiner begleitete sie.
Trotzig schüttelte sie den Kopf. Eine Ehre sei es, eine ganz besondere Aufgabe, der es sich mit Freuden zu stellen gilt, hatten all die anderen gesagt und aufgeregt kichernd gehofft die eine Auserwählte zu sein. Sie selbst aber hatte sich nicht in die vorderste Reihe gestellt. Sie wollte nicht erste sein. Lieber blieb sie in ihrer Wolke. Sie war hinter die anderen getreten, wollte einer von ihnen den Vortritt überlassen und dennoch hatte ein einziger Windstoß genügt um sie aus ihrer sicheren Festung zu katapultieren. Nun aber hatte sie den Beweis. Nichts war da von Freude oder Ehre zu spüren. Nichts – rein gar nichts.
Etwas streifte ihren Blick. Ein Licht. Sie neigte sich vor um es genauer zu betrachten und ihre winzigen Knopfaugen weiteten sich. Da war nicht ein Licht, nein es waren viele, besser gesagt unzählige und sie segelte direkt darauf zu. Noch waren sie entfernt, doch schon waren die ersten Unterschiede zu erkennen. Manche waren grell, weißlich strahlend, andere weich mit warmem Schimmer. Sie sah rotes Blinken dann stahlblaues Zucken und grünes Funkeln. Sie war gerade dabei zu erahnen was das Besondere daran sein konnte erste zu sein, als sie eine Böe erfasste und weiter trug.
Die Lichter verschwanden, und auch wenn sie schon nahe der Erde war, so konnte sie dennoch wieder nur dunkle Schatten erkennen. Der Wind trieb sie über Bäume und Felder und allmählich schlichen sich erste Geräusche an ihr kleines Ohr. Das Reisig raschelte, Stämme ächzten und Äste knarrten. Es fehlte nicht mehr viel und sie würde in einer der Tannenspitzen hängen bleiben. „Na ganz toll.“, dachte sie. Auf einer spitzen Nadel zu landen, in einem finsteren Wald, das war das Letzte was sie sich jetzt wünschte und als sie sich gerade schmollend ihre unspektakuläre Landung ausmalte, merkte sie nicht wie der Wind sanfter wurde, seine Kraft nachließ und ihr Flug in einen leichtfüßigen Tanz überging. Die Bäume wurden niedriger, ihre Wipfel dünner und dann irgendwann endete der Wald und unter ihr breitete sich eine kleine Wiese aus. Darauf ein einzelnes schwaches Licht umrahmt von dunklem Holz. Würziger Rauch hüllte das alte Holzhäuschen ein, Reif lag auf den schmalen Fensterbrettern.
„Bitte lass mich da hin.“, dachte sie stumm und diesmal schien ihr die Luft zu gehorchen. Langsam schwebte sie auf das dünne Flackern zu.
Es war anders als die Lichter zuvor. Lebendiger und eigentlich ganz klein. Dennoch strahlte es warm und hell durch die matte Scheibe. Vorsichtig drehte sie sich auf den Bauch uns segelte langsam auf das Fenster zu, als plötzlich ein Gesicht hinter dem gelben Schein erschien. Erschrocken zuckte sie zurück.
Was war das? Sie war zu neugierig und beugte sich wieder vor. Es war wirklich ein Gesicht. Runde Kulleraugen saßen in einem kleinen von struppigen Zacken umrahmten Gesicht und sosehr sie sich auch von ihren Freunden in der Wolke unterschieden, so hatten sie doch einen ähnlich erwartungsvollen Ausdruck. Das musste ein Mensch sein, dachte sie.
Gespannt betrachtete sie sich gegenseitig. Sie spürte es genau. Sie wurde auf ihrem Flug beobachtet, genau so wie sie es ja auch tat. Sie war schon ganz nahe an der Scheibe, als das fremde Wesen hinter dem Glas plötzlich seinen Mund öffnete und fröhlich aufjauchzte. „Mama! Maaaammmaaa! Komm schnell es schneit!“, rief seine helle Stimme und die kleine Flocke lauschte gespannt. „Aber nein Flori. Es schneit erst morgen.“, antwortete jemand und der Bub wandte sich enttäuscht um. „Aber ich hab sie gesehen. Da ist sie!“, rief der Junge wieder, doch diesmal kam nicht einmal mehr eine Antwort und das junge Gesicht verlor seinen freudigen Glanz. Betrübt folgte er ihr, sah ihr zu wie sie langsam an dem Fenster entlang glitt und mit einem Male tat er ihr leid. Selbst wenn er ein völlig fremdes Wesen war und sie ihn nicht kannte, fühlte sie seine Enttäuschung. Dann tat sie etwas ganz Ungewohntes. Zögerlich hob sie eine Zacke und winkte. Der Junge hinter der Scheibe hob überrascht seine kleinen Finger und winkte zurück. „Ich hab dich gesehen.“, flüsterte er nickend, „Ich weiß es.“ Das Leuchten in den Kulleraugen war zurück.
Sanft landete sie auf dem vereisten Brett und lächelte. Hier war jemand. Hier hatte sogar jemand auf sie gewartet. Freudestrahlend sah sie hoch, doch das Kind war verschwunden.
Dann aber tauchte er wieder auf, öffnete vorsichtig das knarrende Fenster und streckte seine Hand aus. Sie machte sich auf alles gefasst. Jetzt würde sie schmelzen, doch er tat es nicht, er berührte sie nicht. Er betrachtete sie still.
„Damit dir nicht warm wird.“, sagte er leise und legte vorsichtig drei kalte Würfel aus Eis neben sie. Dann schloss er das Fenster und legte seine Hand gegen die Scheibe. „Ich hab dich gesehen. Wir zwei waren die ersten.“, hörte sie ihn noch sagen und allmählich begriff sie.
Das war etwas Besonderes.