Ein Klassenverband für zehn Jahre
Von Robert Franz
Was Politiker und Bildungsexperten diskutieren, wird in einer Solinger Gesamtschule seit einem Jahr erprobt: Auch nach der Grundschule lernen fast alle Schüler einer Klasse gemeinsam weiter. Mit deutlichem Erfolg, sagen die Lehrer.
Deutschunterricht in der Klasse 6F der Friedrich-Albert-Lange-Schule: "Legt erst mal alle euren Kopf auf den Tisch", beginnt Philipp. Er soll von seinen Mitschülern Noten erfragen, die sie für ein gerade vorgetragenes Referat vergeben. Damit keiner sieht, wie die anderen abstimmen, verbergen die Kinder ihre Gesichter. Philipp geht die Noten der Reihe nach durch und seine Mitschüler heben den Arm. Die beiden Klassenkameraden bekommen eine Zwei.
Klassenlehrerin Bettina Schmidt ist zufrieden. Um Mitschüler zu benoten, bedürfe es großen Vertrauens zwischen den Schülern. Das sei hier vorhanden, weil die Kinder bereits die vier Grundschuljahre gemeinsam verbracht hätten. "Auch der Lernstand unserer Kinder ist sehr hoch im Vergleich zu den Parallelklassen", meint der zweite Klassenlehrer Rolf Huhn.
Für die didaktische Leiterin der Schule, Rita Thomas, ist die 6F ein Experiment: Ein Klassenverband, der über die Grundschulzeit hinaus zusammen bleibt. Ein Vorteil liegt für sie darin, dass die Kinder auch nach dem Schulwechsel auf dem gleichen Stand sind. Neues Wissen ließe sich bei gleichen Voraussetzungen sehr viel besser vermitteln, so die Pädagogin. "Dass Schüler bessere Leistungen bringen, wenn sie lange Zeit zusammen lernen, zeigen die Erfahrungen in den skandinavischen Ländern", erklärt Rita Thomas. In der Solinger Schule wird die Gruppe jetzt bis zur zehnten Klasse zusammen sein.
Das aber stellt die Lehrer vor Herausforderungen: Während sie sonst anfangs versuchen, eine neue Gruppe zu schaffen, bilden die Kinder bereits eine enge Gemeinschaft. Das hat auch Nachteile: "Die Rollen für Leistungsträger und Klassenclowns sind längst vergeben", sagt Rolf Huhn. Er und seine Kollegen müssen es deshalb schaffen, vor allem die schwachen oder stillen Schüler stärker zu motivieren, für die sonst der weitere Weg vorgezeichnet wäre. Das erleben auch die Schüler so. "Manche Lehrer hier haben es sicher nicht leicht mit uns", sagt Jana.
Dass die Schüler auch in der weiterführenden Schule weiter zusammen sind, verdanken sie einem Zufall. Ungewöhnlich viele Eltern hatten ihre Kinder an der Friedrich-Albert-Lange-Gesamtschule in Solingen angemeldet. So viele, dass daraus eine eigene Klasse gebildet werden konnte: "In dieser Situation haben wir dann das gemacht, was eigentlich ganz unüblich ist", erinnert sich Rita Thomas. Vorsichtig fragte die Gesamtschullehrerin bei ihrer Kollegin in der Grundschule an, ob die Kinder weiter gemeinsam unterichtet werden sollten. Darauf hatten insgeheim auch viele Eltern gehofft. So mussten nur wenige von der Idee überzeugt werden, erinnert sich Elternpflegschaftsvorsitzende Daniela Klein: "Als wir gemerkt haben, dass alle unsere Kinder auch an der Gesamtschule in eine Klasse gehen, war die Freude sehr groß."
Auch die Schulaufsicht in Düsseldorf ist auf die Klasse aufmerksam geworden. Weil ihr Modellcharakter beigemessen wird, will das Schuldezernat sehr genau die weitere Entwicklung der Schüler im Blick behalten. "Was die Friedrich-Albert-Lange-Schule macht, findet unsere volle Zustimmung", kommentiert Volker Allmann von der Bezirksregierung das Projekt in Solingen. Schulministerin Barbara Sommer wird in wenigen Wochen die Gesamtschule in Solingen besuchen. "Wir würden uns freuen, wenn sie die Zeit hat, sich die Klasse einmal anzusehen", hofft Rita Thomas.
Die meisten Kinder in der 6F könnten sich kaum noch vorstellen, in einer anderen Klasse zu sein und das nicht nur wegen der guten Noten. Ein Schüler: "Wir haben eine sehr gute Fußballmannschaft, die fast jeden Wettkampf gewinnt".