aber gibt es "Legasthenie" überhaupt? Ich habe Sprachbehindertenpäd. für Lehramt studiert, und natürlich standen da Probleme beim Schriftspracherwerb ganz oben bei den Profs. Und wir haben da gelernt, dass die alten Definitionen (z.B. Lindner) eigentlich zu vergessen sind, weil im Grunde gar nicht genau nachvollzogen werden kann, ob nicht doch irgend ein "psychisches" Problem dahinter steckt (z.B. mal Stress mit dem Lehrer oder so). Oder ob es nicht doch an der für den Schüler "unpassenden" Lehrmethode liegt, dass er es einfach nicht blickt. Und: Angeblich gibt es nicht die vielzitierten "typischen" Legastheniefehler wie Buchstabenvertauschen etc, sondern es treten die gleichen Erwerbsphasen und damit verbundene Fehler auf wie bei anderen.
Das bedeutet dann ja auch, dass alle(!) Schüler ein Recht auf Förderung haben, und nicht nur die, die ausschließlich in Deutsch Probleme haben. Ich glaube, das hat die KMK schon in den 70ern beschlossen - was ja nur gut ist. Ich denke, dass die Diagnose "Legasthenie" in gewisser Weise für alle Beteiligten nur eine Art Entlastung darstellt: die Eltern denken, dass ihr Kind nicht doof ist und sie nichts verkehrt gemacht haben. Der Lehrer denkt, dass es also nicht an seinem schlechten Unterricht liegt ("der hat halt Legasthenie, da kann man nichts machen"). Und der Schüler weiß, warum er so viele Fehler macht und ist nicht ständig dem Erwartungsdruck ausgesetzt.
Diese Erleichterung ist natürlich einerseits von Vorteil, aber ich denke, es gibt auch problematische Seiten: Beispielsweise entstehen Einrichtungen, die teilweise die Aufgabe der Schule übernehmen. Weiterhin finde ich es ein Unding, dass in BA-Wü z.B. Kinderärzte und Psychologen die Legasthenieförderung durchführen können, ausgebildete Sonderschullehrer, die sich i n der Deutschdidaktik hervorragen auskennen, aber erst eine Fortbildung brauchen. Hallo?! Wie kann das angehen? Ich meine, ein Arzt hat doch keine Ahnung, welche Phasen ein Schüler beim SSE durchläuft, welche Fehler für welche Stufen typisch sind und wie man darauf reagieren muss?
Aber vielleicht ist es ja ganz typisch, dass heute alles tolle Namen bekommt: Legasthenie, Dyskalkulie, ADS oder ADHS... Und komisch, dass es immer mehr solcher Kinder gibt (vielleicht manchmal vorschnelle Diagnose, weil es dann für alle Beteiligten "klarer" und "einfacher" ist?)
Ich weiß, dass es Kinder mit argen Problemen in diesen Bereichen gibt, aber vielleicht müssen wir unseren Unterricht einfach besser und systematischer anpassen? Dass das bei einer Klassengröße von 20 und mehr meist kaum möglich ist, ist verständlich. Da kann man den Lehrern kaum einen Vorwurf machen (soll auch um Gottes Willen nicht so rüberkommen!). Trotzdem, ich mag die Begrifflichkeit "Legasthenie" überhaupt nicht!
Uff, viel Text , sorry
Eure Sommerlaune