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Forum: "1. 1 Das finstere Zeitalter"
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erstellt: 05.04.2007 19:18:56 geändert: 06.04.2007 15:21:57 |
Sie kannte ihn nun schon so lange, fast ihr ganzes Leben hatten sie miteinander verbracht. Von Kindesbeinen an waren sie, die Tochter des Webers, und Jakob, der Sohn des Schneiders, immer zusammen anzutreffen gewesen. Kein Wunder kannten sich doch ihre Väter gut. Jakob war immer ein aufgeweckter Bursche gewesen, zumindest bis zu seinem 16. Lebensjahr, bis zu jenem schrecklichen Tag, der, wie man damals noch nicht absehen hatte können, einer von vielen schrecklichen Tagen werden würde. Marie schritt schneller aus, achtete aber sorgsam auf die große Kanne.
Durch das Stadttor hindurch waren es nur noch wenige Meter bis zu dem großen herabgekommenen Haus, in dem die Dutzend Kranken dahinvegetierten. Doch als Marie heute näher herankam, merkte sie sofort, dass etwas anders war als sonst. An den Mauern lehnten einige Menschen und auch neben dem Eingang lag eine verkrümmte Gestalt. Als sie ihren Blick schweifen ließ erkannte sie mehr und mehr Kranke, sogar an der heißen Südseite, mitten in der prallen Sonne kauerten zwei. „Gott gütiger!“, hauchte sie, „Ist es schon so schlimm?“. Ihre Gedanken wanderten zurück zu Jakob. „Fieber, Übelkeit, Zittern? Nein, bitte nicht auch er!“, flehte sie leise. Dann hatte sie das Tor erreicht und klopfte.
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erstellt: 09.04.2007 00:36:11 |
Die Menschen, die hier lebten, hatten die letzte Station ihrer Lebensreise erreicht. Sie waren dem Tod ganz nahe und hatten keine Chance mehr. Sie waren vergessen von Bekannten, Freunden und sogar der eigenen Familie – abgeschoben, zum Sterben verurteilt.
Die wenigen, die sich um sie kümmerten, versuchten ihre Leiden zu lindern, ihnen Trost zu spenden und sie auf dem letzten Stück des Weges zu begleiten.
Marie fragte sich oft, woher sie die Kraft nahm, jeden Tag dorthin zu gehen, täglich mit dem unsäglichen Leiden, der Hoffnungslosigkeit , der Krankheit und dem Tod konfrontiert zu sein, ohne selbst daran zu zerbrechen.
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
erstellt: 09.04.2007 16:55:45 geändert: 09.04.2007 17:11:24 |
Hildegard öffnete die Tür und sah Marie vor sich, blass wie die Gesichter die sie tagtäglich hier sterben sah. „Du meine Güte, Kind! Was ist mit dir?", fragte sie geradeheraus, doch das kalkweiße Mädchen drückte ihr nur stumm den Krug in die Hand und verschwand.
Marie lief geradewegs nach Hause. Ein schlimmer Verdacht hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Als sie die Tür zum Gesindehaus aufschlug bestätigte sich ihre Furcht. Jakob schlief noch immer auf der mit Stroh gefüllten Bettstatt, aber das dünne Laken, das ihm als Decke gedient hatte, lag neben ihm am Boden. Besorgt machte sie einen Schritt auf ihn zu, doch gerade als sie ihre Hand auf seine Stirn legen wollte, tauchte er sie wild um sich schlagend weg. Mehr brauchte sie nicht um zu wissen, dass das Fieber um vieles gestiegen sein musste. „Also doch auch er!“, langsam stiegen ihr Tränen in die Augen, ein dicker Kloß setzte sich in ihrem Hals fest, aber Marie schluckte tapfer.
Was war jetzt zu tun? Sie wich einen Schritt zurück. „Seine Familie!“, schoss es ihr durch den Kopf als sich hinter ihr die knarrende Tür öffnete.
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