Ich habe alles durchgelesen in diesem Thread. Ich habe Verständnis, dass man als Lehrkraft manchmal wirklich an seine Grenzen kommt und auch Dinge tut, von denen man weiß, sie lindern nur das Symptom (Pausenverbot z.B.), nicht aber die (unbekannte) Ursache.
Mit seinem Verhalten wird solch ein Kind, wie oben beschrieben, immer bei seinen Altersgenossen auf Widerstand stoßen; noch schlimmer, wenn gleich zwei oder mehrere Kinder so "ticken". Meistens werden solche Kinder es nicht auf die gymnasiale Oberstufe schaffen.
Eines aber finde ich wichtig: So ein Kind sollte in seiner Lehrkraft immer einen guten Freund finden. Das ist natütrlich viel verlangt. Aber nicht unmöglich.
Was, wenn man zum Beispiel nach Marshall Rosenberg vorgeht und das zwischen den Streithähnen in der Giraffensprache regelt? Die Fortbildung ist teuer, aber jeden Cent Wert, finde ich.
Nur mal so als Beispiel aus einem Kiga, in dem ich mit etwa 26 Jahren als Praktikantin gearbeitet habe im Rahmen der Logopädie-Ausbildung (und ja klar, Lehrer haben oft nicht die Zeit, aber ich denke, es könnte etwas veranschaulichen):
Ich spielte mit einem Kind auf dem Bauteppich, als - nennen wir ihn mal Aaron - zu uns trat. Er schrie plötzlich und fegte unseren mühsam erbauten, 60 cm hohen schönen Turm mit einem Schlag in Trümmer. Das Kind neben mir wollte anfangen zu weinen, protestierte und sah mich an.
Aaron war bekannt dafür, "immer alles nur zerstören zu wollen". Niemand mochte ihn, kein Kind, kein Erwachsener. Aaron war im Grunde völlig allein. Und verstand, ebenso wie das Kind in Eurem Beispiel oben, gar nicht, was an seinem Vorgehen falsch war.
Ich wollte, dass ihm einfach mal jemand eine Hand reicht, es machte mich total traurig, wie er da stand und darauf wartete, von mir angemault zu werden.
In meiner Ausbildung hat eine sehr kluge Lehrlogopädin einmal Folgendes gesagt:
"Ihr müsst schauen, wo Euer Patient sich gerade befindet. Ihr könnt nur von ihm verlangen, was er kennt und beherrscht. Ihr könnt keinen Elefanten zum Fliegen bringen, es sei denn, er heißt Dumbo und ist nicht real. Wenn jemand ein [sch] nicht aussprechen kann, dann kann er es auch nicht, wenn ihr es einfach noch einmal von ihm verlangt! Ihr könnt es auch 100mal verlangen, das wird nichts ändern. Und wenn Ihr es 100mal geschafft habt, ihn scheitern zu lassen - glaubt mir, er wird euch nicht mögen! Die Krux ist: Wenn er Euch nicht mag, dann werdet Ihr ihm wahrscheinlich nichts beibringen können, weil er es ablehnt.
Holt also Eure Patienten dort ab, wo sie sind. Wenn sie nörgelig sind oder vorlaut, ignoriert es! Wenn sie einen Laut nicht beherrschen, ignoriert es! Aber wenn er den Sprachlaut auch nur ein einziges Mal aus Versehen richtig produziert, lobt ihn! Wenn er ein schönes Hemd anhat, lobt das schöne Hemd! Wenn er ein hübsches Gesicht hat, lobt das! Macht Euch auf die Suche nach etwas, das ihr wirklich an dieser Person gut leiden könnt! Ihr werdet bemerken, dass das eine positive Beziehung zwischen euch und eurem Patienten ermöglicht. Und nur, wenn diese Beziehung gut etabliert werden konnte, nur dann werdet ihr erstaunliche Therapieerfolge erzielen. Mit welcher Methode ihr danach weitermacht, ist fast schon egal."
Ich hatte diese Worte gerade frisch eingebläut bekommen und sah ein paarmal zwischen dem zerbrochenen Turm und den beiden Kindergesichtern hin und her -
Dann schrie ich: "Oh nein, ein Tornado! Oh nein! Polizei! Feuerwehr!"
Okay, danach musste ich erst einmal erklären, was ein Tornado ist, aber dann sah ich Aaron an und rief: "Hast du eine Ahnung, wo die Polizei bleibt? Wir haben hier Opfer, der Turm ist eingestürzt! Krankenwagen, schnell!"
Aaron sprintete zur Fensterbank, da lagen Feuerwehrautos und Krankenwagen. Ein weiteres Kind hatte das Chaos mitbekommen und lief mit einem weiteren Polizeiauto herbei. Dann wollten die beiden Aaron verhaften, aber ich sagte:
"Nein, der Aaron war doch nur der Wirbelsturm, stimmt's, Aaron?"
Und der Kleine nickte so heftig, dass ihm die Brille herunterfiel.
Anschließend haben wir Kranke, also ein paar Puppen, ins Krankenhaus gebracht, Aaron hat das Feuer mit dem Feuerwehrauto gelöscht und alle drei Kinder haben danach zusammen den Turm wieder aufgebaut. Ich war eine Woche lang da gewesen, aber es war das erste Mal, dass ich Aaron mit anderen Kindern habe spielen sehen.
Übrigens hat danach das 3. Kind den Turm wieder "weggepustet", da war er dann der Wirbelsturm. Aaron hing mir von Stund an an der Hose und was auch immer ich ihm sagte, saugte er auf wie ein Schwamm. Er war nicht so dumm, wie alle in der Gruppe meinten, und er weinte, als ich ging.
Stigmatisierung ist sicher nicht etwas, das Lehrkräfte wollen oder verursachen; aber Isolierung kann immer nur eine seltene Übergangslösung sein. Eigentlich ist es keine Lösung, im Gegenteil, das Problem wird nur fester verknotet.
In einem ruhigen Gespräch mit allen Parteien (also, den beteiligten Kindern) kann man immer mal ein paar positive Seiten des Störenfrieds erwähnen, zum Beispiel:
"Du bist doch ein recht schlauer Bursche." oder
"Wolltest du spielen? Das wäre kein Problem, wenn du nur ein bisschen vorsichtiger bist, nicht jeder ist so robust wie du." oder
"Zeigt ihm mal, wie ihr angesprochen werden wollt." an die anderen Kinder.
Das sind übrigens nicht einmal Beispiele aus dem Programm von Rosenberg, das ist auf meinem Mist gewachsen.
Ich wurde einmal als Kind von einem Jungen und seiner "Bande" in einer Telefonzelle eingesperrt (für alle Jüngeren: kleine gelbe Zellen aus Hartplastik mit einem Telefon drin, das in der Öffentlichkeit auf Plätzen oder am Straßenrand stand, weil es ja noch keine Handys gab). Ich erkannte den Jungen, nennen wir ihn "Max", denn er war ein Mitschüler. Ich winkte ihm zu und gab zu erkennen, dass ich es bin und er mich doch kannte. Er schickte sofort seine Bande weg und wollte mit mir spielen. Was wir dann auch taten. Ich fühlte mich zwar dazu gezwungen, aber ich wusste auch noch viel mehr über ihn, als er vielleicht selbst wusste.
Sein Vater war im Knast. Seine alleinerziehende Mutter fuhr nackig auf dem Fahrrad durch unseren Stadtteil. Sein älterer Bruder war im Jugendstrafvollzug. Wen hatte er schon, der sich um ihn kümmerte? Wer hätte ihm Regeln, Benimm oder was auch immer beibringen können?
Unsere Lehrerin hatte ihn bei uns vor die Klasse gestellt und uns gepredigt:
"Ich will, dass ihr euch den Max genau anschaut! Ich will, dass niemand jemals so wird wie er!"
Hart, ne? War aber in meiner Kindheit durchaus gängige Lehrerpraxis.
Und ich sah in die Augen dieses sommersprossigen Jungen, der so allein war und nicht einmal genau verstand, was die alte Frau da gerade tat - aber er verstand genug, dass es ihn schmerzte. Es war der Tag, an dem ich meine Lehrerin nicht mehr wirklich leiden mochte. Aber da war ich eher allein.
Als Max und ich 21 Jahre alt waren, haben wir uns wiedergesehen. Ich war auf der Uni und jobbte gerade an einer Trinkhalle. Er war arbeitslos und heroinabhängig und ging so, wie nur Heroin eine Gangart verursacht, mit krummem Rücken und eingeknickten Knien. Einen Monat später war er tot. Er wurde nur 21 Jahre alt. Goldener Schuss.
Immer, wenn ich auf "böse Kinder" stoße - ich weiß, auch ihr würdet sie nie so nennen, aber die Mitschüler*innen tun das sicherlich und wenn sie älter werden, haben sie noch ganz andere Begriffe parat -, dann bin ich tieftraurig, weil ich den meisten, wenn sie nicht IQ-eingeschränkt sind, ihre Einsamkeit förmlich ansehe. Ich würde mich immer auch einem Täter in Wohlwollen zuwenden, nur um ihm aufzuzeigen, dass er kein Täter sein muss, dass es etwas wie Menschenliebe gibt, für die es sich aus den widrigsten Situationen herauszukämpfen lohnt.
Ich will eigentlich niemanden hier belehren, ich entschuldige mich aus tiefstem Herzen, wenn das so rüberkommt, dann habe ich nicht die richtigen Worte gefunden und entschuldige mich. Dennoch möchte ich dafür plädieren, solche Kinder nicht allein daran messen, wie hart sie den Frieden in der Gemeinschaft stören, sondern auch stets dem etwas entgegenzusetzen, das diese Kinder so tief in ihrem Inneren verletzt hat, dass sie ihre eigenen Gefühle nicht mehr ausleben können außer in Gewalt.
Es mag auch Kinder geben, die eine schöne Kindheit hatten und trotzdem ausklinken - aber, wie sagte der Arzt, der mich in der Logopädie ausgebildet hat: häufig ist häufig und selten ist selten. Und ganz selten haben Leute Läuse und Flöhe.
Im übrigen finde ich die Ausgangsfrage hier total gut, denn das zeigt ja, wie wichtig es war und ist, das Thema hier zu besprechen. Und auch viele der Antworten fand ich kreativ und richtig. Mir selbst war einfach extrem wichtig, diesen Aspekt der kindlichen Psyche zu durchleuchten. Danke fürs Lesen.