Für die schwächeren Schüler gibt es heute
vielfach Fördermaßnahmen, aber ich glaube,
für viele schwächere Schüler stellen viele
heute in der Grundschule gelebten
Paradigmen eine Benachteiligung dar.
Ein paar Hinweise darauf aus meiner
Förderpraxis:
a) als Subtraktionsschema findet zunehmend
die 'Durchstreichmethode'
(Entbündelungsverfahren, fälschlich oft
'Abziehmethode' genannt als Gegensatz zur
'Ergänzungsmethode') Eingang in die
Grundschulen, bei der bei Bedarf explizit die
nächsthöhere(n) Stelle(n) des Minuenden um
1 verringert wird/werden statt dass zusätzlich
eine 1 in der nächsthöheren Stelle als Ganzes
abgezogen wird wie noch vor einem Jahrzehnt
üblich. Je nach Konstellation (vor allem wenn
mehrere nächsthöhere Stellen um 1 zu
verringern sind) kann das zu
Durchstreichorgien führen und sehr
fehleranfällig sein, von der generellen
Unübersichtlichkeit ganz abgesehen. Zwar
können auch schwächere Schüler die
Durchstreichmethode recht sicher erlernen,
die Probleme zeigen sich aber, wenn die
Methode später rekapituliert werden muss.
Das frühere Verfahren hat hier klare Vorteile.
b) Dass die Durchstreichmethode heute
vielfach favorisiert wird, liegt an der sich breit
machenden Forderung, dass Kinder heute
alles reflektieren und dies auch noch in Worte
fassen sollen. Das ist ja grundsätzlich richtig,
wird aber heutzutage vielfach pervers
gehandhabt. Die Durchstreichmethode ist da
ein gutes Beispiel. Natürlich kann man diese
bei der Einführung des Subtraktionsschemas
gut zur Erklärung nutzen, aber: wie kann man
nur auf die Idee kommen, für die Praxis des
Subtraktionsschemas dabei zu bleiben?
In meiner Schule wird mit dem Matherad
gearbeitet, und die Schüler tun dies
weitgehend selbständig. Und da wird häufig
nach reflektierenden Erkenntnissen gefragt.
Für einen Dialog mit einem Lehrer sind diese
Fragen sehr gut geeignet, nicht aber zur
eigenständigen Bearbeitung durch
Zweitklässler. Dementsprechend lese ich bei
den schwächeren Schülern dann auch bei
Fragen nach dem Warum Sätze wie 'Weil es so
ist' oder anderen Unsinn. Eigenständig
gegebene vernünftige Antworten sind
weitgehend nur von starken Schülern zu
erwarten mit guten analytischen Fähigkeiten
bereits im frühen Grundschulalter.
Am Freitag hatte ich sogar ein in Mathematik
recht starkes Mädchen in der Förderung, mit
dem ich normalerweise nicht arbeite. Es war
traurig-bockig-verzweifelt, weil es in einem
Mathe-Test bestimmte Aufgaben nicht lösen
konnte, nämlich: bei einer Sachaufgabe mit
mehreren Sachverhalten die entsprechenden
Fragen zu formulieren. Sachaufgaben mit
offenen Fragestellungen für Zweitklässler
passen genau in diese merkwürdige neue Welt
der Forderung an kleine Kinder, alles zu
reflektieren und (schlimmer) zu formulieren.
c) Individualisiertes selbständiges Lernen zum
Beispiel mit dem Matherad ist in. Aber da sind
auch die schwächeren Schüler benachteiligt.
Die den Schüler führenden Materialien (beim
Matherad das Arbeitsheft) sind keineswegs
ideal. Teilweise sind die Arbeitsgebiete
überladen, teilweise fehlt eine gute Führung in
die Arbeitsthemen. Gute Schüler kommen
immer irgendwie klar, nicht so aber die
schwachen und insbesondere die schwachen
antriebsarmen.
Ich habe beispielsweise einen Schüler in der
Förderung, der bei der Subtraktion im
Arbeitsheft des Matherad 2 kaum Fortschritte
machte, obwohl er eigentlich ein gutes
Verständnis für die Subtraktion hat. Ich habe
ihm daraufhin massiv die Aufgaben
zusammengestrichen und bei den
verbleibenden Aufgaben jeweils die Lösung
der 1. Teilaufgabe vorgegeben, damit er eine
Vorlage hat. Als ich ihn diese Woche wieder in
der Förderung hatte, habe ich mit Freude
gesehen, dass er jetzt die (verbliebenen)
Aufgaben im Arbeitsheft schon fast
vollständig gelöst hat. Er war extrem fleißig!
d) Dass die Kleinen in der Grundschule sich
gut selbst einschätzen lernen sollen, ist auch
so eine komische Sau, die gerade durchs
Schuldorf getrieben wird. Meist ist dies
zumindest nicht schlimm (z.B. im Matherad).
Es kann aber schlimm sein. Im 4. Schuljahr
wurden bei uns differenzierte Klassenarbeiten
nach dem Spaltenmodell geschrieben, und da
sind definitiv die schwächeren Schüler
benachteiligt. Diese tendieren dazu (vor allem
bei den ersten Arbeiten), die Aufgaben der
linken Spalte zu präferieren. Da die Notenskala
dort aber mit 3 beginnt, die Aufgaben der
linken Spalte aber genau so den
Unterrichtsstoff abdecken wie die rechte Seite
(und es bei den meisten Aufgaben gar keine
nennenswerte Differenzierung zwischen linker
und rechter Spalte gibt), sind die schwächeren
Schüler ganz klar benachteiligt.
e) Auch im Deutschunterricht glaube ich
inzwischen, dass die heute vielfach
praktizierte LdS-Methodenwelt
sprachschwache Kinder benachteiligt. Eine
sehr richtige Erkenntnis von LdS ist ja, dass
Hören/Sprechen/Lesen/Schreiben sich
gegenseitig bedingen/beflügeln. Allerdings
priorisiert LdS bestimmte dieser
Zusammenhänge und vernachlässigt andere,
und Kinder mit einem schlechten
Lautverständnis haben es schwer. Zur LdS-
Methodenwelt gehört ferner, dass die
Rechtschreibung weitgehend über Regelwerke
erlernt wird. Bei sprachlichen
Lerngegenständen bin ich gegenüber einem
Lernen per Regeln schon immer skeptisch
gewesen, habe aber lange geglaubt, dass
einfache Regeln auch für schwächere Schüler
geeignet sind. In meiner Förderpraxis erlebe
ich aber, dass selbst so eine einfache Regel
wie die Konsonantenverdoppelung nach
kurzen Vokalen bei manchen schwachen
Schülern keine Chance hat, wenn der Schüler
trotz intensiven Übens kein Verständnis für
kurze und lange Vokale hat (man kann auch
kurze Vokale langziehen!).
Ich stelle dem mal die Fibelmethode
gegenüber. Durch Erarbeiten eines
Fibelwortschatzes werden auch
lautschwachen Schülern manche Laute wie
das 'r', das oft nicht deutlich gesprochen wird,
bewusst gemacht, und die korrekte
Rechtschreibung wird von Anfang an eingeübt.
Kinder sind tolle Mustererkenner, so dass die
Rechtschreibung der erlernten Fibelwörter auf
viele noch nicht erlernte Wörter übertragen
wird. Beginnt das Erlernen der
Rechtschreibung hingegen erst im 3.
Schuljahr, fehlen zwei Jahre, in denen die
Schüler schon viele Rechtschreibkenntnisse
ganz nebenbei erworben hätten, ähnlich wie
Kleinkinder die mündliche Muttersprache
erlernen. Und Rechtschreibung per
Rechtschreibregeln bevorzugt die starken und
benachteiligt die schwachen Schüler.