Ach du lieber Himmel!
von merigarto
"Ach du lieber Himmel!", seufzte Flo.
Sie war am untersten Ende ihrer Nerven.
Wie immer sollte an einem Advent das Adventskonzert des örtlichen Frauenchores stattfinden. Rund dreizehn Frauen trafen sich mittwochs zum Üben. "Ach du lieber Himmel!" nannte sich der Chor und das war als Freudenruf und Lob gemeint.
Flo war die Chorleiterin. Flo hieß natürlich nicht so wie dieses kleine lästige Tierchen, sondern das war die liebevoll gemeinte Abkürzung ihres Vornamens Florence.
Wie immer gab es im Herbst heftige Stürme.
Die Namen der Wetter-Hochs und -Tiefs waren schon einmal das Alphabet durcheilt, daher ging es wetternamenstechnisch wieder von vorne los. Als Tief folgte auf "Alwine" die "Bravhildt" und dann "Corona" - und letzteres hatte es in sich, es verwirbelte das ganze Land im endenden Herbst.
Dem kleinen Dörflein hatte der kräftige Spätherbststurm heftig zugesetzt. Nicht nur, dass alle Gebäude - bis auf Arthur Meiers Stall, in dem die dicken Schweine saßen - drei Meilen fortgeweht waren und nun direkt am Vordersten Holz, dem dunklen und dichten Laubwald, bunt durcheinander gewürfelt standen, nein, das Tief "Corona" hatte auch durch die Häuser gepustet und alles woanders hin geblasen.
Das Sofa stand vorm Waschbecken, der Fernseher lag im Bett und schlief (kein Wunder, es gab ja auch keinen Strom), der Küchentisch hatte Freundschaft mit der Heizung geschlossen, im Flur rotteten sich die Schränke zusammen, ach, undsoweiter.
Das überaus Tragischste überhaupt aber war, dass das fiese Orkantief "Corona" die Noten mitgenommen hatte. Das war schlimm, weil der Frauenchor des Ortes zum dritten Advent singen wollte, nein, musste. Es sollten alle wieder froh und fröhlich werden und neuen Mut fassen.
"Doch uns fehlen die Noten", konstatierte Flo traurig auf der ersten Chorprobe nach dem Unwetter, die, wie immer. an einem Mittwoch stattfand.
Und die erstaunten Sängerinnen sahen es mit eigenen Augen.
"Da, da fehlen ja die Noten, die ganzen Töne!"
Auf den Seiten gab es nur leere Notenlinien, Striche wie Wäscheleinen, jedoch ohne Wäsche, ohne Pfosten, ohne Vögel.
"Der Corona-Sturm hat sie uns geklaut."
"Und nun?"
Sie berieten hin und her. Auf die Schnelle - das Adventskonzert sollte übernächstes Wochenende stattfinden - kamen sie nicht mehr an neue Noten. Schließlich war auch die Infrastruktur hinüber: kein Strom, kein Internet, kein sonstwas. Sie hatten Glück, dass am Waldesrand immerhin ein Wasseranschluss für die Viehtränke bestand.
"Wenn ich könnte", überlegte Claire (Sopran), "Würde ich mein C für unsere Noten spendieren."
"Na du bist ja lustig. Das klappt ja nie, aber ich würde mich dir anschließen", pflichtete ihr Elif (Sopran) bei. Die beiden Sopranistinnen waren schon immer auf der gleichen Wellenlänge. "Von mir käme das F."
Flo schrie auf.
Erschrocken schauten die Chorschwestern zu ihr.
"Da, da, da..", stammelte sie, rieb sich die Augen und zeigte dann auf das Notenblatt vor ihr. "Da sind eben zwei Notenköpfe auf das Blatt gehüpft."
Sie hielt ein aufgefaltetes Doppelblatt hoch, so dass es alle sehen konnten.
Auf den leeren Linien der beiden Seiten sprangen nun Punkte hin und her, als würden sie Kriegen spielen. Und ab und zu blieb ein Punkt haften und ein anderen sprang umher.
Aber das geschah nur im ersten Zwischenraum, dort wo das F wohnt. Dann auch beim "tiefen" C, dort zeichnete sich rasch noch ein kleines Linienstück ein. Und dann wurden die anderen Plätze für das hohe C und das hohe F besetzt.
Aber das bekamen die Chorschwestern gar nicht mehr mit. Sie riefen aufgeregt durcheinander.
Alina (Sopran) rief: "von mir kommen die A-Töne!"
"Ich spendiere alle D, die wir brauchen!" Das war Doreen (Alt).
"Und als Zela bin ich für die E zuständig, nicht nur im Sopran!"
"Naja, wenn das klappt", brummte Uhu (Alt), die ihren richtigen Vornamen noch nie genannt hatte, wobei jeder im Dorf wusste, dass sie Zwetschgürtlsch Pyzertkakajah Kraquerötz hieß (mit Vornamen!), "dann spendier ich mein H."
Und siehe da, in rascher Folge füllten sich die Notenblätter.
An verschiedenen Stellen saßen die Töne und blinkten schwarz, das heißt, sie änderten dauernd ihre Größe.
"Oh weh. unsere lieben Tönchen sind verwirrt", resümierte Flo. "Sie wissen nicht, wie lange sie dauern sollen. Na dann..." Sie überlegte. "Ich spendiere meine F, L, O, damit sich daraus die ganzen, die Achtel- und die 1/16-Noten bilden können."
Augenblicklich beruhigte sich die Situation. Viele Noten stoppten ihr Blinken, einige machten einen offenen Überraschungsmund und andere schmückten sich mit Fähnchen.
"Aber es gibt ja immer noch Lücken", bemerkte Eli.
"Richtig, Noten fehlen noch", ergänzte Uu.
"Wartet, lasst uns systematisch vorgehen", schlug Oreen vor. "Es fehlen noch, Moment, G. Nee, sonst sind alle da."
"G, G, das ist doch ein Fall für mich", sinnierte Gröta (Alt). Und ergänzte laut: "Wer sonst? Das G kommt von mir, bitte sehr."
Rence schaute sich die Noten genauer an. "Ganz rund ist's noch nicht. Uns fehlen noch die Notenschlüssel - "
"Kein Problem", rief Laire. "Ich hab' immer noch so einen alten großen fetten Kellerschlüssel, den ich als Schlagwaffe zur Selbstverteidigung nutzen würde." Sie nestelte an ihrem Schlüsselbund und suchte vergeblich danach. "Komisch, er ist weg. Tut mir leid."
"Das ist doch ganz toll!" Rence war begeistert. "Der sitzt nämlich nun vorm auf den Bass-Linien."
"Dann spendier ich noch meinen Fahrradschlüssel von meinem alten Zweiräder, das mir mal geklaut wurde, in der Stadt, diese Halunken – also Fahrradklaumenschen." Rita (Sopran) schüttelte derweil ihr Schlüsselbund und alle sahen, wie sich der Schlüssel daraus löste und im Affenzahn in die Notenblätter hüpfte.
Claudia (Alt) fiel noch etwas auf: "Wir brauchen aber auch halbe Noten und punktierte Noten." Und sie hatte auch gleich eine Lösung: "Ich spendiere einfach mein kleines i. Du mein i teile dich bitte auf für die Punktierung und die Striche für die halben Noten."
"Ahm - und die halben Töne?" Röta hatte das angemerkt.
"Richtig. Was machen wir damit?", warf Zla in die Diskussionsrunde.
"Oh, das B, das spendiere ich. Meinetwegen auch beide", schlug Barbara (Alt) vor.
"Aber die -is- und -es-Töne..." Oreen näherte sich dem Verzweifeln.
"Hat eine von euch ein Hashtag übrig?", fragte Rence.
Arbara hatte gleich zwei Vorschläge: "Hier, von unserer Chorseite #achdulieberhimmel! bei Instagram. Und dann könnt ihr ja noch mein kleines b nehmen."
Rence schaute nochmals durch. "Na, jetzt scheint es zu passen. Oh, ich sehe gerade, da kommen auch noch die Pausen, die Taktzahlen, die Klammern und alle anderen angeflogen. Da wirkt wohl die Anziehungskraft der Musik."
Sie war zufrieden.
"Na dann stellt euch mal auf, dass wir mit der Chorprobe anfangen können."
Rence stand als Chorleiterin in der Mitte und um sie standen im Halbrund die Soprane Eli, Laire, Zla, Lina und Rita, und dann die Alt Oreen, Röta, Arara, Uu und Clauda.
"Los geht's! Wir fangen an mit 'Oh Happy Day'!"
(c) 2020 Heinrich Hinze merigarto