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Forum: "Das Land der Bekloppten und Durchgeknallten"
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| @lupenrein | | von: janne60
erstellt: 04.06.2011 21:44:48 |
Bist du da ganz allein drauf gekommen
Natürlich ist es so, und es klingt doch viel besser, wenn es heißt "gemäß der UN-Menschenrechtskonvention darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden", als wenn man sagen würde "Leute, wir müssen sparen, also seht zu, wie Ihr für's selbe Geld und zu beschissenen Bedingungen alle Kinder unter ein Dach kriegt"
Wenn im Zuge der Inklusionsdebatte wenigstens EINMAL der Begriff "kleinere Klassen" fallen würde, könnte ich mich damit sogar anfreunden. Is aber nicht. Ich kriege nach den Ferien 27 Erstklässler, davon 1 hörgeschädigtes, 1 Kind aus Osteurpoa, das keinerlei Deutsch spricht, 3 NullrundenKinder und eins, dass schonmal zurückgestellt war und auch jetzt als lernbehindert eingestuft wird. Es wird wohl so sein, dass dieses Kind am Ende des Jahres mindestens integriert, vielleicht auch schon inkludiert wird (je nachdem, wie schnell unser Kultus-Mufti das durchkriegt). Die restlichen 21 Kinder werden wohl in die üblichen 3 -4 Leistungsniveaus zerfallen. Ich sehe mich jetzt schon jedem Kind gerecht werden und freu mich total! |
| Wie schön | | von: janne60
erstellt: 05.06.2011 11:09:17 geändert: 05.06.2011 11:09:40 |
Bei uns neigt man dazu, grundsätzlich den Gaul von hinten aufzuzäumen. Wir hatten das G8 vor allen anderen, und als man das durchgesetzt hatte, merkte man plötzlich, ach du Schreck, jetzt braucht man ja Kantinen für die Kinder! Da wurden im Hauruckverfahren Baumaßnahmen umgesetzt. Das war nur einer von etlichen Schildbürgerstreichen in dieser Angelegenheit. Was sich leider bis heute nicht rumgesprochen hat, ist die überfällige Entrümpelung der Lehrpläne. Macht aber auch nix, denn man ist ja schon wieder auf dem Rückzug: G9 für alle, die das möchten.
Ja, und mit der Inklusion möchte unser Herr Kessler eben auch ganz vorn sein. Drum werden wir erstmal alle Kinder unter einem Dach behalten (zu den gewohnten schlechten Konditionen, versteht sich), und dann mal sehen, was hinten bei rauskommt.
Ich möchte, ehrlich gesagt, in meinem Bundesland kein förderbedürftiges Schulkind haben, auf dessen Rücken diese Misswirtschaft ausgetragen wird |
| @ janne60 | | von: mtp
erstellt: 05.06.2011 19:16:18 geändert: 05.06.2011 19:21:07 |
Ich habe mein gesamtes Studium in England absolviert und war viele Jahre an verschiedenen englischen "comprehensive schools" (Gesamtschulen) tätig. Dort gehören zentrale Prüfungen,Inklusion und etliche andere Bildungskonzepte, mit denen hier in Deutschland geliebäugelt wird, schon seit Jahrzehnten zum normalen Schulalltag. Sicherlich ist das englische System nicht perfekt,dennoch konnte ich kaum fassen, was sich hier zutrug, als ich 2005 meinen Dienst in NRW antrat ... zum Beispiel gab es sogenannte "Implementationsveranstaltungen"für das Zentralabitur, die etliche Wochen nach Unterichtsbeginn stattfanden; KollegInnen versuchten ihr Bestes, die mageren, einzeiligen Vorgaben inhaltlich zu füllen, wobei harte Interpretationsarbeit geleistet werden musste, um den Schülern gerechtwerden zu können. Die reinste Lotterie! In England bekamen wir z. B. vor den Sommerferien (!) ein ca. 50-seitiges, fachspezifisches "teacher support manual" zur Vorbereitung unserer Schüler, die in zwei Jahren ihre Prüfungen ablegen sollten. Wir fühlten uns hervorragend unterstützt und waren uns zudem sicher darüber, was unsere Schüler leisten mussten, um die Prüfungen gut zu bestehen. Diese Sicherheit besitzen wir hier nicht.
Inklusion: Auch ich unterrichtete Klassen von bis zu 18 Kindern mit allen möglichen körperlichen, emotionalen oder geistigen besonderen Bedürfnissen. Keine leichte Aufgabe, die in GB jedoch mit entsprechender Entlastung an anderer Stelle bedacht wird. Inklusion gehört einfach zum Job eines britischen Lehrers dazu, aber drüben wurden wir auch gezielt in "special educational needs teaching" ausgebildet!
Zudem gibt es an jeder englischen "secondary school" eine mit pädagogischen Fachkräften ausgestattete "special needs unit",ein Gebäudetrakt innerhalb der Schule,welcher eine Art Basis, ein "schulische Zuhause"für die Schüler mit besonderen Lernbedürfnissen darstellt. Dort erhalten sie in den Hauptfächern Unterricht in Kleinstgruppen; in den Nebenfächern kamen sie zu uns in den mainstream. Alle Lehrkräfte konnten uns jederzeit zur Unterstützung an diese hochqualifizierten KollegInnen, Sozialpädagogen und Sonderschullehrer, wenden. Diese Strukturen brauchen Lehrer ebenso wie die Kinder zur Unterstützung; hat man hier überhaupt schon mal daran gedacht, wie dieses Konzept auf praktischer Ebene umgesetzt werden kann, bevor man sich der Theorien verschreibt?
In vielen Ganztagsschulen bekommen die Kinder immer noch kein warmes Mittagessen, weil einfach keine Räumlichkeiten zur Verfügung stehen - undenkbar in England.
Hier in Deutschland scheint man sich - von der Pisa-Angst besessen - über die eigene Schulter zu schauen, und in aller Hast bestimmte, gut laufende Ansätze aus dem Ausland als rettendes Serum in das kränkelnde Bildungssystem hierzulande zu injizieren ... aber ohne geeignete Blutbahnen, die diese Medizin auch transportieren können, kann sie das Herz dieses Bildungssystems nicht erreichen!
Ich war anfangs wirklich überrascht darüber, wie wenig Protest vonseiten der Lehrer hörbar wurde; um mich herum vernahm ich ein gros an niedergeschlagender Resignation. Heutzutage überrascht es mich allenfalls, wie wenig die deutschen "classroom practitioners"von ihren echten Vorgesetzten gehört werden (ich spreche nicht von den Schulleitern) - ja, es konsterniert mich, wie wenig sich das Ministerium um das Wohl seiner Lehrkräfte kümmert. Ich habe berufliche Fürsorge anders erlebt.
Jetzt habe ich viel zuviel geschrieben ... sorry. Ich liebe meinen Beruf, fühle mich an meiner Schule sehr wohl, finde die Gesamtsituation aber ebenso besorgniserregend wie Janne60 et al ... zu viele Lehrer in Deutschland fühlen sich nur noch fremdbestimmt und resigniert. Dabei geht soviel Kompetenz und Herzblut verloren - und genau das brauchen wir hier!
Vielleicht ist das der riesige Nachteil des Beamtentums - a great deal of privilege but no real voice to be heard. Great pity.
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