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Forum: "Lernmethode 'Lesen durch Schreiben':"Das ist völliger Unsinn!""
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| Warum das so ist? | | von: palim
erstellt: 21.06.2013 07:07:32 |
Noch ein Beispiel ... weit hergeholt, aber anschaulich:
Seit Jahren beobachten Forscher, dass unter Linden viele tote Hummeln liegen.
Man forschte genauer und merkte dann, dass die Hummeln unter nicht-heimischen Linden zu finden waren. Die Vermutung lag nahe, dass die Hummeln durch den Nektar der Linden sterben, weil darin schädliche Stoffe enthalten sind.
Jahrelang wurde also verbreitet, dass Linden Hummeln töten.
Inzwischen hat man durch weitere Forschungen festgestellt, dass die Linden keine "Killerbäume" sind, sondern dass die ausgeräumten Gärten kaum Nektar anbieten in der Zeit, in der noch die Linden blühen. Hummeln verhungern, weil sie nicht genug Nahrung finden. Sie scharen sich um die letzte Quelle, die Linden, und sterben dort entkräftet, weil es nicht für alle ausreicht.
Was das mit Rechtschreiben zu tun hat?
Nichts.
Aber: dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, dass die offensichtliche Annahme nicht immer zielführend ist. Häufig gibt es weitere Gründe.
Ich bin keine Verfechterin von LdS in Reinkultur, aber ich habe schon häufig festgestellt, dass Elemente daraus vielen Kinder gut tun. Z.B. den Starken, weil sie durch Lehrgänge dann weniger gegängelt sind und ihre Fähigkeiten schneller ausbauen können. Das ist bekannt.
Aber es hilft auch denen, die im Erzählen einen Zugang zum Schreiben finden, im Mitteilen und Fabulieren. Wenn es nicht auf die RS ankommt, schreiben diese Kinder seitenweise freiwillig, ohne Sorge um die RS zu haben.
Ich kann mir vorstellen, wie es deshalb bei einigen von euch die Nackenhaare hochstellt. Aber es ist nicht so, dass für diese Kinder RS unwichtig ist. Vielmehr schreiben sie so viel und beschäftigen sich dabei immer wieder mit Schreibformen, hören genau hin, überlegen, verwerfen, verbessern, dass sie darüber genau die Fähigkeiten ausbilden, die ihnen eigentlich fehlen.
Es ist nicht so einfach, die Gründe zu finden,
aber so leicht, eine bestimmte Methode dafür verantworlich zu machen, halte ich für kurzsichtig.
Was ist mit anderen Gründen:
- Sehr viele Kinder haben wenig Zugang zu Schriftkultur. Ich habe eher das Gefühl, dass man in den 70ern viel mehr Bildungsbemühungen hatte und dies nachgelassen hat.
- Eltern geben viel an die Schule ab, weil sie selbst mehr arbeiten, weil sie nicht können oder nicht wollen. Das zeigt sich im Üben für Diktate, aber doch auch im Umgang mit den Kindern - gemeinsam spielen, lesen, aufmerksam sein, ... (das kann man endlos fortsetzen) findet auch nicht statt.
- Kinder sind ganz anderen Anregungen ausgesetzt, einige sind förderlich, andere nicht.
- Kinder stromern nicht mehr durch Wiesen und Felder, es bewegt sich immer mehr zu den Extremen: die einen sind ständig unter Beobachtung, die anderen nie. Wer sich nie ausprobiert, probiert auch beim Lernen nicht.
In der Zeugniskonferenz ging es um ein Kind, das am Beckenrand stand und sich nicht traute zu springen, obwohl es besonders gut schwimmen kann. Genauso traut sich dieses Kind nicht, zu schreiben und zu rechnen, sobald es einen Absatz oder eine winzige Herausforderung gibt.
- Förderstunden wurden gestrichen und Bildungsausgaben sind angeblich ja besonders hoch, wir merken aber alle, dass das Geld an Schulen irgendwie nie reicht.
- Kinder, die Therapien benötigen, nehmen zu. Das liegt ja vermutlich nicht an LdS. Es gibt Therapien, aber auch Ärzte, die diese lieber nicht verordnen.
Bestimmt gibt es noch mehr Gründe.
Sich auf diese Methode und die RS zu stürzen, finde ich fatal.
Wichtiger wäre es wirklich, den Focus generell auf Bildung zu setzen und in die Köpfe ALLER zu bringen, dass das Beste für unsere Kinder gerade gut genug ist. Dass es wichtig ist, dass nicht einzelne, sondern alle gute Bedingungen zum Lernen brauchen. Dass wir nicht zu viele auf der Strecke lassen, sondern uns um alle bemühen.
Ich sehe es wie bei den Hummeln: Monokultur hilft nicht.
Palim |
| Faktoren, die m.E. nach hineinspielen | | von: donnaleone
erstellt: 21.06.2013 08:14:36 |
Nun, aus meinem beruflichen Alltag kann ich nur sagen, dass
es sicher viele Faktoren gibt, die die o.g. Probleme
auslösen bzw. verstärken.
1. Phonologische Bewusstheit: Es gibt heute viele Kinder,
die hier deutliche Defizite zeigen: Silbenstruktur,
Phonemidentifikation, Reime usw. Gerade bei der notwendigen
Differenzierung ähnlicher Laute z.B. /b/-p/ treten dann
Probleme auf. Ebenso bei der Bestimmung der Auslaute oder
der Wortdurchlautung.
2. AVWS: Auch sehr weit verbreitet, leider. Hier treten oft
Schwierigkeiten im phonologischen Arbeitsspeicher auf.
3. Neue Medien: Viele Kinder verbringen schon im Kiga-Alter
zu viel Zeit mit neuen Medien. Vor allem die Spielekonsolen
sind echt furchtbar. Schnelle Reize, Reizüberflutung, kaum
sprachliches Material, einfach zu bedienen...Es gibt diverse
Untersuchungen, dass zu intensive Mediennutzung bei Kindern
mit Risikofaktoren zu einer deutlichen Verschlechterung der
schriftsprachlichen Leistungen bzw. zur Stagnation führt.
Visuelle Reize werden überbetont.
4. Überbewertung der Motorik im Kiga: ähm, entgegen aller
Vorurteile: es gibt bei nichtbehinderten Kindern keine
Probleme zwischen "Gehirnhälften". das ist einfach Unfug.
Sprachliche Kompetenzen werden durch Sprechen und Zuhören
gefördert, nicht durch Hopsen. Oft ist die sog.
Sprachförderung im Kiga auch ihre Bezeichnung nicht wert.
5. Gesellschaftliche Veränderungen: Hier kommen viele
Faktoren zum Tragen: Wegbrechen der alten Familiensysteme,
wenig Vorlesen, gemeinsames Spielen, Sprachlosigkeit mancher
Eltern, aber auch "Überförderung" des Kindes
(Freizeitgestaltung, ständiges Anbieten von neuen Reizen).
Sinkendes Niveau des sprachlichen Materials: man vergleiche
bitte mal Kinderbücher aus den 70/80er Jahren mit heutigen
Produkten.
6. Zu wenig Automatisierung in der Grundschule: Ständig
wechselnde Angebote an die Schüler, zu wenig
Wiederholungsaufgaben, zu volle Lehrpläne, zu viel
Schnickschnack wie Zirkusprojekte etc, Methodenwirrwarr
statt klarer Strukturen
7. Veränderung der Erziehungshaltung: Viele Eltern gehen mit
ihren Kindern wie mit Partnern um, es fehlt die klare
"Ordnung" und damit entsteht eine Überforderung des Kindes.
Es geht nicht um Drill, sondern um klare Positionen. Man tut
dem Kind keinen Gefallen, wenn man ständig diskutiert und es
"ernst nimmt", im Gegenteil, Strukturen müssen vorgelebt
werden.
8. Aus Punkt 7 entsteht oft Punkt 8: Zunehmende
Verhaltensauffälligkeiten im sozialen-emotionalen Bereich,
die wiederum im Unterrichtsalltag zu Problemen führen. Sehr
vorschnell wird oft die Diagnose ADHS in den Raum geworfen,
dabei gibt es nur ca. 3-4% ADHS-Kinder pro Jahrgang, der
Rest sind meist Kinder mit einfachen Verhaltensproblemen:
Lernen, sich an Regeln zu halten, Lernen, sich
zurückzunehmen etc.
9. Zunahme der bildungsfernen oder bildungsfremden
Schichten: Natürlich werden auch Erwachsene durch die
scheinbare Leichtigkeit der neuen Medien verführt. Lieber
Glotze als ein Buch, lieber Freizeitpark als Garten, lieber
Spielekonsole als Brettspiel.
Noch kurz zu der Zunahme der Therapien: Ja, es gibt einfach
auch immer mehr Kinder (siehe die Gründe oben), die Therapie
brauchen. Dabei sehe ich die Ergo in den meisten Fällen eher
als nettes Angebot an. Vielmehr benötigen viele Kinder
bereits im Kiga aufgrund von sprachlichen Auffälligkeiten
Logo, um einen guten Schulstart zu ermöglichen. Es ist
leider so (da frage man einfach mal einen KJP), dass immer
mehr Kinder auffällig werden und Hilfe benötigen
Und nun habe ich genug gefaselt.Wünsche einen guten Tag.
Donna
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| @palim | | von: unverzagte
erstellt: 21.06.2013 08:21:32 |
danke für deinen beitrag, ich möchte ihn unterstreichen!
der neue spiegel-artikel hat mich schon nachdenklich gemacht, allerdings kommt mir diese plötzliche, massive kritik an der reichen-methode auch wie ein ablenkungsmanöver von einer generell kränkelnden bildungpolitik vor.
nach dem motto: schafft lds ab und dann wird alles gut.
ich seh den wesentliche vorteil dieser methode darin, dass dem kind nichts übergestülpt wird in form von fertigen fibeltexten, die ihnen als wichtig verkauft werden sollen, die aber oftmals sehr wenig mit ihrer eignen erlebniswelt zu tun haben.
mit reichen wird eine vollkommen andere motiavtionsqualität ermöglicht: der mut zum freien ausdruck, der entwicklung eines persönlichen stils und das produzieren eigener, bedeutsamer texte gefördert - die lust am schreiben schlechthin!
okay, ich bin ein ehemaliges fibelkind und hab dennoch meine freude am schreiben entdecken können, dennoch würde ich die anlautmethode immer für stärkere sus anbieten. |
| Danke Palim | | von: caldeirao
erstellt: 21.06.2013 09:09:21 |
für Deine sehr konstruktiven Beiträge. Genauso sehe ich das auch.
Auch Donna, dein Beitrag erklärt viel und so ist es.
Die Gesellschaft entwickelt sich und Kompetenzen die man zum Erlernen der RS benötigt, werden weniger angebahnt.
Zum Erlernen der RS braucht man eben Ausdauer und Disziplin. Striktes Einhalten von Regeln ist notwendig. Mehrere Möglichkeiten gibt es eben nicht (selten). Alles das sind Dinge, die Kinder heute nicht mehr so lernen wie früher.
Wenn ich daran denke, wie viele Gedichte meine Großeltern und Eltern gelernt haben, so trennten das zu meinem Pensum Welten und das verglichen mit heute ist ein weiterer Quantensprung. Dafür treten andere Kompetenzen in den Mittelpunkt.
Es gibt viele Gründe, warum die RS so schlecht ist. Es liegt aber mit Sicherheit nicht an LdS.
Und ich möchte nochmal schreiben, dass LdS nicht für JEDES Kind die passende Methode zum Lesen- und Schreibenlernen ist, aber viele Kinder können durch diese Methode gut und schnell lesen und schreiben lernen und für manche ist es ein Segen, dass sie nicht mit der traditionellen Methode lesen und schreiben lernen. Denn denken wir mal an die vielen Kinder, die in die 1. Klasse kommen und lesen und schreiben können und dann erst einmal ein ganzes Jahr mit Omi am Haus und Susi und Ina rollen mit dem Roller üben. Fuchtbar! |
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