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Forum: "1. 1 Das finstere Zeitalter"
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erstellt: 12.04.2007 21:14:47 geändert: 14.04.2007 22:30:30 |
Mit Hedwigs Abschied begann für Marie eine lange, manchmal fast trostlose Zeit. Ihre Freundin und Vertraute, die Gefährtin ihrer unbeschwerten Kindertage, war ihr, so empfand Marie es zumindest, jäh entrissen worden. Nun hatte sie niemanden mehr, mit dem sie ihre Geheimnisse und Gefühle teilen konnte. Obwohl sie Hedwig in den letzten Wochen und Monaten manches Mal mit ihrer Ernsthaftigkeit und Frömmigkeit erschreckt hatte, so war sie doch über die ganze Zeit hinweg ihre Freundin und Vertraute gewesen, mit der sie alles besprechen konnte, was sie verwunderte, erfreute oder erschreckte.
Nun war Hedwig fort.
Die Jungen, die ihr bisher alle wie ihre Brüder vorgekommen waren, fand Marie nun so manches Mal seltsam, denn sie lachten über sie, wenn sie bei ihren wilden Spielen und Tobereien nicht mehr mithalten konnte und deswegen lieber allein mit sich und ihren Gedanken durch Wald und Wiesen strich.
Doch wie sollte sie auch mit den Jungen mithalten können. Seit ihrem zehnten Lebensjahr bestanden ihre Eltern darauf, dass sie sich züchtig, wie es sich für eine Jungfer gehörte, kleidete. Der bodenlange Rock, sowie Schultertuch, Schürze und Haube, die Marie nun ständig tragen musste, hinderte sie daran, sich so frei zu bewegen, wie die Jungs das in ihren Kniebundhosen und den losen Leinenkitteln vermochten.
Außerdem hatte Marie manchmal das seltsame Gefühl, dass vor allem Jakob sie so seltsam anschaute.
An vielen Tagen ging sie den Jungen deswegen lieber aus dem Weg und verkroch sich alleine in ihrem Kräutergarten, den sie sich mit der Erlaubnis ihrer Mutter auf einem kleinen Stück Acker hinter dem Haus anlegen durfte. Liebevoll pflegte sie ihre Kräuter und Pflanzen, hatte für jedes neue Blatt und jede Blüte ein liebes Wort und scherte sich nicht darum, ob die Jungen hinter ihrem Rücken darüber lachen mochten.
Sie pflegte und hegte die vielen Kräuter, die sich im Laufe der Jahre in ihrem Gärtchen ansammelten. Goss sie an heißen Sommertagen, schützte sie in den oft rauen und kalten Wintern mit einer dichten Schicht Tannenzweige und freute sich darüber, dass immer häufiger ein paar Zweige von diesem oder jenen Büschchen den Weg in die Kochtöpfe ihrer Mutter oder ihrer Tanten fanden.
Am schönsten jedoch waren die Tage, an denen Hedwig für einen kurzen Besuch aus der Klosterschule heimkehrte. Dann waren die beiden jungen Frauen aus dem Garten kaum mehr heraus zu bekommen oder streiften stundenlang durch die Wiesen und Wälder. Hedwig ließ Marie gerne an dem Wissen teilhaben, dass sie unter der gestrengen Hand der Nonnen erwarb und wie schon beim Lesen, so saugte Marie auch jetzt alles auf, was sie an Wissen erlangen konnte. Manchmal brachte Hedwig ihr sogar einen kleinen Ableger eines seltenen Krautes, den sie heimlich aus dem Klostergarten entwendet hatte, mit, den Marie dann sorgsam hegte und pflegte, damit er ihr nicht unter den Händen verdorren mochte.
Heute kamen ihr diese langen Stunden mit ihren Pflanzen zugute, denn Marie hatte ihren Kräutergarten im Laufe der Zeit vergrößert, und nicht selten kam es vor, dass Hedwig, die sich entschieden hatte nicht im Kloster zu bleiben, sondern mit ihrem Wissen den Menschen in ihrem Heimatstädtchen zu helfen, zu ihr kam, um ein Zweiglein eines seltenen Krautes, das sie für einen ihrer vielen Aufgüsse oder für einen Tee benötigte, von Marie zu holen.
So ergänzten sich die beiden Freundinnen auch heute noch. Marie hegte und pflegte die Kräuter, die Hedwig dann zu Salben, Tees und Tinkturen verarbeitete, mit denen sie den kranken Seelen in ihrer Umgebung Linderung und Trost spenden konnte.
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erstellt: 13.04.2007 00:18:01 geändert: 15.04.2007 18:44:49 |
„Ich habe an Hedwig eine Nachricht geschickt. Oh, Kamill. Ich kann ihm nicht mehr helfen,“ verstohlen wischte sich Marie mit der linken Hand an der Nase. „Ich habe einen Sud aus Eichenrinde gekocht. Ich habe ihn erbrechen lassen. Nichts bringt das Fieber runter. Ich habe ihn mit kühlem Wasser gewaschen. Ich ... Ich ...... Ich weiß nicht mehr weiter!“ Marie fiel bei den letzten Worten in sich zusammen, barg ihr Gesicht in den Händen und wiegte sich vom Weinkrampf geschüttelt vor und zurück. Kamill hob hilflos eine Hand, um sie seiner Schwester tröstend auf die Schulter zu legen, lies sie aber mitten in der Bewegung wieder fallen. Was sollte er denn sagen? Wie sollte er denn seine Schwester trösten? Wie sollte er ihr Trost geben, wenn er dem selber bedürfe? Diesen Schmerz kannte er, damals als ihre Eltern starben fühlte es sich ähnlich an. Damals glaubte er, mit diesem Schmerz nicht leben zu können. Unwillig schüttelte er den Kopf, so als wolle er die dunklen Gedanken verscheuchen. „Ja,“ nickte er, „ja, das war eine gute Idee, Marie. Hedwig wird Rat wissen.“ |
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erstellt: 14.04.2007 14:14:08 geändert: 14.04.2007 20:26:04 |
Die letzten Strahlen der Sonne drangen durch die kleine Luke im Dach, fielen auf Jakobs nasse Stirn und tauchten sein blasses Antlitz in ein warmes Licht. Hedwig kniete daneben. Sie war sofort heraufgeeilt, als sie Maries Nachricht erhalten hatte.
Nun saß sie da und zerstampfte die mitgebrachte Weidenrinde, obwohl sie eigentlich wusste, dass sie nur die äußeren Erscheinungsformen bekämpfen würde, nicht aber das Gleichgewicht in Jakobs Körper wieder herstellen konnte. Hedwig war müde. Die letzten Wochen hatten viel ihrer inneren Kraft geraubt, sie ausgezehrt und erschöpft. Umgeben von Tod und Leid hat sie jedoch ihren scheinbar aussichtslosen Kampf im Siechhaus noch nicht aufgegeben, auch wenn sie die Nachricht von Jakobs plötzlichen Fieber wie ein harter Schlag mitten ins Gesicht getroffen hatte. Hätte ihr früher jemand gesagt, dass sie einmal einer Krankheit so hilflos gegenüber stehen würde, sie hätte ihn ausgelacht. In ihrer Überzeugung gegen alles ein Heilmittel finden zu können war sie in die Welt hinausgetreten nur um eines Besseren belehrt zu werden.
Die Menschen starben wie die Fliegen und jeden Tag wurden es mehr.Das kleine Haus am Rande der Stadt,das man zur Unterbringung der Kranken ausgeräumt hatte, war völlig überfüllt. Anna die Moserin und in die anderen hatten alle Hände voll zu tun. Ihre Neffen, Chonrad vor allem, er war der größere der beiden, kamen kaum noch zu Schlaf und es grenzte an ein Wunder, dass sie selbst noch nicht darniederlagen.
Hedwig stand auf. „Wir müssen ihn ins Siechhaus bringen. Auch er ist mit der Pest gestraft!“, sagte sie um Fassung bemüht. Sie fing Maries, nun auch der letzten Hoffnung beraubten, Blick auf. „Er kann nicht hier bleiben! Er gefährdet euch alle!“, mahnte sie dringlich. Denn wenn sie jemanden kannte, dann war es Marie und deren Sturkopf. Natürlich, es kam wie es kommen musste…
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erstellt: 14.04.2007 15:47:41 |
Fieberhaft rannen die Gedanken in Maries Kopf, tausend Möglichkeiten, Erklärungen, Gebete, Ausflüchte, alles auf ein Mal. Sie musste sich zwingen einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, nur das nicht. Jakob durfte nicht ins Siechhaus gebracht werden, das wäre sein sicherer Tod!
„Nein“ sagte Marie entschlossen, er wird nicht ins Siechhaus gebracht. Kamill, der sich schon auf den Weg machen wollte um Hilfe zum Tagen des schwachen Körpers Jakobs zu holen, hielt inne. „Marie, bitte“ sagte ihr Bruder, „ er muss hier raus, er ist eine Gefahr für uns alle.“
„Eine Gefahr?“ Marie war ganz außer sich, „ bringen wir ihn dort hin, wird er keine Chance mehr haben, dort ist so viel zu tun, keiner wird sich ausreichend um ihn kümmern können und die vielen Kranken sind eine noch viel größere Gefahr für Jakob.“
Hedwig und Kamill sahen einander an, sie konnten Marie zwar verstehen, aber es nützte nichts, beide wollten gerade anfangen noch einmal auf Marie einzureden, da kam ihnen Marie zuvor. „Ich pflege ihn gesund, ich nehme ihn mit in meine Kammer, dort kann ich auch nachts bei ihm sein und ihn pflegen.“
Kamill und Hedwig starrten sich an
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erstellt: 14.04.2007 17:05:09 geändert: 14.04.2007 20:10:43 |
Kamill besann sich darauf, dass er das Familienoberhaupt war und ergriff als erster das Wort.
„Marie, das kommt nicht in Frage. Erstens schickt es sich nicht, mit einem Mann die Kammer zu teilen, wenn man nicht miteinander verheiratet ist und sei er auch noch so krank, und zweitens lasse ich es nicht zu, dass du dich derart in Gefahr begibst und uns alle gleich mit.“
Er sah die nackte Angst und Verzweiflung in Maries Augen und fuhr einlenkend fort „Wir werden Jakob hierbehalten, aber er bekommt eine extra Kammer am Ende des oberen Flures. Dort hat er seine Ruhe, wir teilen uns die Pflege und niemand sonst darf erfahren, dass wir einen Schwerkranken hier im Haus beherbergen.“
Marie fügte sich dem Machtwort ihres Bruders und Hedwig nickte bedächtig, nicht weil sie zustimmte, sondern, weil sie wußte, dass sie gegen diesen Kompromiß zwischen Marie und Kamill nicht ankam.
Sie hatten durch diese grauenhafte Plage bereits so viele Verwandte, Freunde und Bekannte verloren, dass es für sie schon bald nur noch eine Frage der Zeit war, wann sie dran waren.
Jakob, der sich in seinem Fieberwahn unruhig hin- und herwarf, bekam nichts davon mit, und unter größten Anstrengungen und mit vereinten Kräften trugen sie Jakob in eine kleine Kammer, die ihnen früher als Vorratsraum gedient hatte.
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erstellt: 15.04.2007 14:23:03 geändert: 15.04.2007 14:26:17 |
..auch wenn Hedwig jeden Tag vorbeikam und die mit frischem Tuch abgedeckten Schwellungen kontrollierte. Trotz Maries Panik hatte sie sich rasch dazu entschlossen die großen dunklen Schwellungen aufzustechen. Eine übelriechende Flüssigkeit war hervorgetreten, die Hedwig immer aus sicherer Entfernung mit viel Wasser abspülte. Denn eines hatte sie gelernt, Abstand halten war wichtig. Sie vermied es mit aller Vorsicht den frischen Wunden zu nahe zu kommen oder sie abzutupfen. Gerade an diesen Stellen sammelten sich große Mengen des schlechten Miasmas, dessen war sie sich sicher.
Kamill beäugte das Tun der beiden Frauen immer wieder mit offensichtlichem Unmut, denn es gehörte sich doch wirklich nicht einen halbnackten Mann abzuwaschen und einzusalben. Noch dazu an solch prekären Stellen. Jakob war nicht mehr der kleine Junge von damals. Er war erwachsen geworden. Doch die beiden ließen sich trotz all seiner mahnenden Reden, nicht davon abhalten. Ganz im Gegenteil, musste er sich auch noch aufgebrachte Worte gefallen lassen. „So hör doch auf, Kamill! Hast du denn nichts anderes zu tun? Simon und Rachel Bescheid geben zum Beispiel, wie es sich für den Herr des Hauses gehört?“, hatte ihm Marie noch am Abend des ersten Tages entgegen geschleudert. Nein, das hatte er nicht getan. Geknickt war er davongeschlichen, voller widersprüchlicher Gedanken. Es gehörte sich einfach nicht. Auch nicht wenn Jakob ein guter Freund war. Ein weiterer Grund für Kamill Marie immer wieder abzulösen. Der Ruf seiner Schwester war ihm einfach wichtiger als das Risiko auch krank zu werden einzugehen.
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erstellt: 15.04.2007 20:04:22 |
Kamills Gedanken waren wirr und liesen sich auch nicht durch das unruhige hin- und hergehen ordnen. Zuviel Verantwortung lastete auf dem jungen Mann. Nicht nur die Weberei mit ihren drei Angestellten und deren Familien hingen von ihm ab. Die Schwester sollte bald gut verheiratet werden. Geeignete Bewerber hatte es im vergangenen Winter noch zahlreiche gegeben. Kamill hatte den Kaufmann Thomas schon für sich in die engere Wahl genommen. Allerdings wollte er eine Entscheidung nicht ohne Maries Einwilligung treffen. Und diese war seinen Gesprächsversuchen immer wieder ausgewichen. Nun wusste er warum. Der Grund lag vor ihm. Oder er glaubte es zumindest zu wissen. Er hielt Maries Schwärmereien für den Freund aus Kindertagen halt für Jungmädchen-Träume. Nach der Vehemenz aber zu schließen, mit der Marie um die Gesundheit von Jakob kämpfte, schien es aber mehr als nur ein Schwärmen zu sein. Und das stellte Kamill vor das nächste Problem. Jakob war Jude. Juden wurden im Moment für das schreckliche Sterben der Menschen verantwortlich gemacht. So recht konnten die Priester keine Erklärung geben, warum der „unruhig Judd“ für diese Strafe Gottes der Grund sein sollten. Aber Kamill legte sich nicht öffentlich mit den Kuttenträgern an; da zog man doch nur den Kürzeren. Marie konnte doch keinen Juden heiraten, man heiratete in der Kirche, mit dem Priester, mit den Sakramenten. Die Juden gingen in eine Synagoge, und sie hatten keine Sakramente. Sie glaubten auch nur an einen Gott, den sie Jehova nannten und nicht an einen dreieinigen Gott. Jesus kannten sie zwar, aber nicht als Erlöser, sondern nur als Prophet. Wie sollten Jakob und Marie dann den Bund fürs Leben schließen? Wie sollten sie Kinder bekommen? Müsste seine Schwester den Glauben verleugnen? Und wäre dann der ewigen Verdammnis ausgeliefert?
Wie lange konnten sie Jakob noch im Haus behalten? Bardolf hatte gestern abend beim Mahl so seltsame Andeutungen über Maries neuste Begeisterung für die Dachkammer geäußerst. Kamill kannte Bardolf lange genug um zu wissen, dass der Knecht etwas im Schilde führte. Ach ja, ein lautloser Seufzer entrang sich Kamills Brust. Fürwahr viele Lasten auf den Schultern eines 17-jährigen.
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