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Forum: "Fördert Offener Unterricht alle Kinder?"
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| Robischon | | von: juegoe
erstellt: 19.09.2013 08:13:26 |
Hi Palim,
ich will niemanden in eine Ecke stellen - allerdings sind manche Beiträge von
mir auch ein Echo. Damit sind nicht Deine Beiträge gemeint.
Wenn Du Peschel selbst liest - oder das was auf der Webseite des offenen
Unterrichts steht - dann muss ich leider sagen, dass Deine Aussage, das
schwächere Kinder ganz viel Struktur brauchen nur dann stimmt, wenn die
Struktur sie nicht dazu zwingt, etwas zu tun, was sie nicht wollen.
Schon Freinet beschreibt, dass man ein Pferd, zwar zur Tränke führen kann,
aber wenn es nicht trinken will, wird es das nicht tun.
Peschel hat in seiner Dissertation für jedes Kind seiner Klasse in Bezug auf die
Lernentwicklung eine meist mehrseitige Fallbeschreibung über die 4 Jahre
Grundschulzeit geführt. Besonders ausführlich über die Kinder, die als
lernschwach galten oder sogar - weil aus unbeschulbar kategorisiert - als
letzte Maßnahme zu ihm in die Klasse überwiesen wurden.
Er hat eben keine Struktur im herkömmlichen Sinn verwendet. Seine Struktur
war die, die Kinder selbst entscheiden zu lassen, was sie jetzt hier und heute
machen wollen. Der Erfolg hat ihm recht gegeben. Nicht das diese Kinder
Klassenbeste geworden wären, aber sie erreichen im Klassenleistungsbild
gute Ergebnisse.
Z.B. Björn, eines der als unbeschulbar geltenden Kinder, ist nach der
Überweisung in seine Klasse gar nicht für schulische Lernsachen zu
interessieren. Er läuft lieber herum und guckt, was die anderen Kinder
machen. Da kein Druck auf ihn ausgeübt wird, sich in einer bestimmten Weise
zu verhalten oder etwas bestimmtes zu tun, bracht er sich auch nicht gegen
diese Maßnahmen zu wehren. Zu Beginn kann er ungefähr die Hälfte der
Buchstaben benennen. Nach wenigen Schulwochen beginnt er am Computer
Vampirgeschichten zu schreiben. Er tut sich sehr schwer, seine Geschichten
vorzulesen. Wiederum wenig später wird er ertappt, wie er - als er in einer
Gruppe die Wackelpudding mit Gummibärchen herstellen will - doch
sinnentnehmend lesen kann: nämlich die kleingedruckten Anleitungen
inclusive dem Abmessen der Wassermengen in Milliliter und Bruchzahlen.
Nach dem 4. Schuljahr wechselt Björn mit der Bewertung 'Gut' im Bereich
Sprache und 'Sehr gut' in Mathematik aufs Gymnasium. Dort scheitert er
jedoch am vorherrschenden Frontalunterricht - an der Struktur des Lernens,
die dort vorgegeben ist. Deswegen ist er nicht beschulbar.
Peschel vergibt auch keine Phantasienoten, sondern misst mit
standardisierten Tests, z.B. Rechentests von Lobeck für die dritte und 4 Klasse
und auch mit einer TIMMS Nacherhebung, an der die Klasse teilgenommen
hat. Ergebnis: Die Klasse lag im stark überdurchschnittlichen Bereich.
Der Ausgangspunkt der klasse wurde auch erhoben und wird als 'leicht
unterdurchschnittlich' beschrieben.
Und ich stimme Dir zu, dass die Kinder nicht ohne Lehrer sondern nur mit
dem Lehrer das erreichen können. Sie brauchen ihn aber nicht zum
kleinstschrittigen Abarbeiten von Aufgaben, sondern dafür dass sie Vertrauen
in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln und bei dem was sie machen wollen
rückhaltlos unterstützt werden - nicht dass das jemand für sie macht! Und
eben nicht herkömmlich gelenkt. Das wirkt sich offensichtlich - wie der Fall
Björn zeigt - nachteilig aus.
Ähnliches beschreibt H.v.Hentig. 2 Schüler kamen an die Glockseeschule und
konnten weder Lesen noch Schreiben. Nach 2 Jahren der Freiheit das nicht
lernen zu müssen haben sie es dann doch gelernt - ohne traditionelle
Methoden und ohne bimsen mit dem Lehrer - aber mit seiner Unterstützung.
Ich bin mir nicht sicher, ob deutlich wird, wo der Unterschied zwischen der
traditionell geforderten Struktur des Unterrichts und der Unterstützung bei
eigenen Lernvorhaben liegt.
Und es gibt auch Kinder, die sie ständige Begleitung Peschels brauchen, weil
sie sonst über Tisch und Bänke gehen, andere drangsalieren. Peschel schreibt,
dass er immer wieder die Verantwortung für das Geschehe in der Klasse an
die Klasse abgegeben hat und dass in allen Fällen die Kinder selbst - nicht
von jetzt auf gleich - das Verhalten dieser Kinder verändern konnten.
Genauso wie die Klasse selbst geregelt hat, das die Lautstärke kein Problem
mehr war. Das geht allein mit der demokratischen Grundstruktur des Offenen
Unterrichts, in der die Kinder nicht nur ihr Lernen selbst bestimmen, sondern
auch alles selbst regeln, was in der Klasse so anfällt: Streitigkeiten,
Ungerechtigkeiten, Lernvorhaben, ... |
| Wie lange ...? | | von: juegoe
erstellt: 19.09.2013 13:43:28 geändert: 19.09.2013 13:52:53 |
Hi,
warum fragst Du?
Ich habe mich seit meiner Referendarzeit mit Reformpädagogik Montessori,
Steiner, Freinet, Rogers, Cohn auseinandergesetzt, meine zweite Staatsarbeit
über TZI an der Berufsschule geschrieben, ein Montessoridiplom erworben,
einen Waldorfkindergarten mit gegründet und dort die Elternfortbildung
durchgeführt, über 10 Jahre Freinet-Pädagogik Fortbildiungen als Teilnehmer
und Leiter gemacht, das Institut für Teamarbeit in Köln mit Prof. Dr. Anne
Ratzki gegründet und dafür Schulleiterfortbildung gemacht, ich betreibe die
Internetseite freinet.paed.com, offener-unterricht.net und noch verschiedene
andere.
Ich bin seit 2000 nicht mehr im Schuldienst. Peschels Dissertation ist erst
2003 erschienen aber ich mache gerne auch hier deutlich, dass Falko Peschel
das verwirklicht hat, was ich selbst nicht habe umsetzen können. Ich ziehe
meinen Hut vor diesem Konzept und habe mich an der Grundschule
Harmonie, der Aktiven Schule Petershausen und an vielen anderen Schulen
überzeugen können, das es tatsächlich anders geht. Ich kenne auch Rolf
Robischon aus verschiedenen Diskussionen
Ich habe auch die von mir vertretenen Ansätze - auch nicht immer in
Übereinstimmung mit meiner Schulleitung- in meinem Unterricht versucht
umzusetzen - wie das halt so an Regelschulen möglich ist - und in manchem
Kollegen Mitstreiter gefunden.
Ich bin also gewiss keine leuchtende Ikone eigenen Offenen Unterrichts aber
ich trete für meine Überzeugungen und für das, was ich richtig finde ein, auch
wenn sie/es vielleicht unbequem sind/ist. Und was Lernen angeht, da bin ich
mir ganz sicher, das geht nur mit den Kindern und nicht gegen sie - auch
dann nicht, wenn es doch das sog. 'Beste' für sie zu sein scheint.
Die Frage hier hieß: Fördert Offener Unterricht alle Kinder? Und darauf kann
ich nur aus ganzer Überzeugung sagen: Vielleicht nicht alle (der Nachweis
wäre noch zu erbringen), aber sicherlich viel mehr und viel besser als das die
Regelschule tut.
So und jetzt Du. |
| andere Seite | | von: palim
erstellt: 19.09.2013 14:33:20 |
Es ist deine Sichtweise der Dinge und der Kinder, zu sehen, dass besonders offener Unterricht viele Kinder besser fördert, als der Unterricht, den du dir unter "Regelschule" vorstellst.
Meine Meinung und Sichtweise ist, dass viele Kinder in der Regelschule, wie ich sie täglich erlebe, durchaus gut zu fördern sind.
Probleme habe ich mit den Kindern, die aus verschiedenen Gründen nicht lernen können.
Sie tragen alle so viele andere Probleme mit sich herum, die es eigentlich gilt, zuerst zu lösen, die ich aber nicht lösen kann.
Ich fände es schön, wenn die Kinder satt zu essen hätten, Zuneigung und Liebe von zu Hause bekämen, ordentliche Kleidung und vernünftiges Schulmaterial.
Wenn die Kinder keine Beziehungsprobleme welcher Art auch immer ertragen müssten,
wenn sie frühzeitig Therapien bekämen, die ihnen helfen
und wenn der Medienkonsum auf ein stark reduziertes Maß dezimiert werden könnte.
Und denen, die mehr Zeit und Betreuung beim Lernen brauchen, würde ich diese auch gerne zugestehen.
Das alles liegt aber nicht in meiner Macht ... und auch nicht in den Möglichkeiten eines sehr offenen Unterrichts.
Palim |
| meine Sichtweise? | | von: juegoe
erstellt: 19.09.2013 17:56:17 |
Hi,
es ist nicht nur meine Sichtweise sie wird von mehreren Schulen und den dort
tätigen LehrerInnen geteilt. Die Lernerfolge der Kinder sind ja kein
Wunschdenken, sondern das sind harte Facts, die sich nachprüfen lassen, und
der unterricht der Regelschule stelle ich mir nicht vor, sondern den habe ich
mein Lehrerleben lang gelebt und - leider - auch selbst erteilt.
Und Deine Argumentation erlebe ich nicht nur selbst, sondern auch Falko
Peschel erlebt sie bei seinen Vorträgen immer wieder.
Und ich setzt dagegen, weil Falko Peschel seinen Unterricht an einer ganz
normalen Regelschule ausprobiert hat, weil in seiner Klasse genau diese
Kinder auch waren, weil die Grundschule Harmonie bei Köln eine Regelschule
mit 174 SchülerInnen ist, weil es eben entgegen all diesen Behauptungen
nicht nur an den Bedingungen der Regelschule - damit meine ich die
traditionelle öffentliche Schule - liegt sondern eben auch die Schere in den
Köpfen der LehrerInnen verankert ist, besser gesagt hineinbetoniert ist.
Ich habe selbst oft genug erfahren, das etwas nicht geht, weil es in den
Köpfen der LehrerInnen nicht geht. An der Berufsschule an der ich damals war
gab es eine Tagung über handlungsorientierten Unterricht. Die SchülerInnen
sollten schon in der ersten Schulwoche mit Messgeräten arbeiten. Die
einhellige Meinung der LehrerInnen: Geht nicht. 1000 Argumente. Auf Druck
der wissenschaftlichen Begleitung musste das aber nun umgesetzt werden
und siehe da, selbst die eingefleischtesten Gegner kamen zu der Einsicht: Ja
das geht ja doch und das macht den Schülern Spaß und sie machen mit. Ok -
das ist lange her, aber die gleiche Situation.
Die Unzufriedenheit mit den Bedingungen in der Regelschule liegen auf der
Hand, der zweifelhafte Erfolg der Regelschule ist immer wieder nachzulesen:
die SuS können dieses nicht, können jenes nicht. PISA hat die mittelmäßige
Qualität belegt. Aber es scheint so zu sein, wie Voker Pispers (Kabarettist)
sagt: Bloß keine Experimente - es könnte sich ja was ändern.
Du hast ja vollkommen recht: Sie tragen alle so viele andere Probleme mit sich
herum, die es eigentlich gilt, zuerst zu lösen, die ich aber nicht lösen kann.
Nur was Schule macht ist auf diesen Berg noch die Lernprobleme obendrauf
zu satteln. Schule verschärft die Probleme. Auch so eine Sache, die ich mir
nicht vorstelle, sondern die leider belegt ist. |
| . | | von: feul
erstellt: 19.09.2013 23:23:44 |
@ juegoe:
ich hab mir lange überlegt, ob ich auf einen Befehl ("so und jetzt du") überhaupt antworten soll. Aber aus deinen Beiträgen hier geht hervor, dass du wahrscheinlich gar nicht anders kannst.
Dann also ich:
Ich habe mich seit meiner Studienzeit mit Reformpädagogik Montessori, Steiner, Freinet auseinandergesetzt,in "freien Schulen" hospitiert, das Montessoridiplom für Kinderhaus, Grundstufe und Mittelstufe erworben, einen Montessorikindergarten gegründet der nun seit 25 Jahren besteht , dort auch gearbeitet und diverse Fortbildungen durchgeführt.
Ich bin seit 35 Jahren im Schuldienst und ich habe auch die von mir vertretenen Ansätze – meist in Übereinstimmung mit meiner Schulleitung- in meinem Unterricht versucht umzusetzen - wie das halt so an Regelschulen möglich ist - und in manchem Kollegen Mitstreiter gefunden.
Ich habe an diversen Schulen die Vor- und Nachteile offenen Unterrichts erlebt und für mich gibt es nicht „die“ Lösung. Im Regelschulwesen geht einiges, aber vieles auch nicht. Palim und indidi haben jetzt manches geschrieben, was ich auch schreiben wollte.
Dass offener Unterricht an einer freien Schule leichter umzusetzen ist, ist wohl klar.
Allerdings verlangen (hier bei uns) die freien Schulen von den Eltern Schulgeld (wie das bei euch ist, weiß ich nicht). Damit sind wir m.M. nach wieder bei dem Punkt, dass Kinder dieser Eltern ganz andere Voraussetzungen haben.
Deinen Antworten entnehme ich, dass du zwar überzeugt von dieser Methode bist, aber nie (zur Gänze) auf diese Art und Weise unterrichtet hast, schon gar nicht einen Jahrgang mehrere aufeinanderfolgende Jahre lang, um von DEINEN Erfahrungen berichten zu können oder an Grenzen gestoßen zu sein. Jede Grenze eröffnet eine Chance zur Weiterentwicklung, macht aber auch kritischer und lässt eine Diskussion zu. |
| @ feul | | von: juegoe
erstellt: 19.09.2013 23:47:03 geändert: 20.09.2013 00:21:14 |
Du hast mich doch gefragt, ohne auch nur ein Strebenswörtchen über Dich zu
sagen! Aber egal.
>> Ich habe an diversen Schulen die Vor- und Nachteile offenen Unterrichts
erlebt
Mit Verlaub, aber das glaube ich nicht. Es gibt gar nicht so viele Schulen, die
wirklich offenen Unterricht , damit meine ich Offenen Unterricht als
durchgängiges Unterrichtsprinzip machen. Alle Untersuchungen dazu haben
immer wieder ergeben, dass der Unterricht nur minimal geöffnet ist, nur
punkuell, nur stundenweise geöffnet: nicht wirklich offen ist - ich will Dir
nicht zu nahe treten, aber es ist (leider) so. Offen heißt immer maximale
denkbare Mitbestimmung für SchülerInnen. Offen heißt nicht die SchülerInnen
zwischen x und y wählen zu lassen, oder an gut vorbereiteten Stationen
vorgegebene Aufgaben abarbeiten zu lassen. Freiarbeit ist nicht die Wahl
zwischen vorgegebenen Themen, eher schon die freie Themenwahl zu einem
Oberthema, aber eigentlich im Sinne des Offenen Unterrichts die vollkommen
freie Wahl eines Themas.
Wenn Du mal Dir die Seite http://offener-unterricht.net/ou/start-offu.php?
action=rast1 anguckst und Dir durchließt was Peschel meint: 5 Dimensionen
der Öffnung in jeweils sechs Ausprägungen (Übersichtlich in Tabellen, keine
Textwüste), stimmst Du mir vielleicht zu.
Und zu meinen persönlichen Unterrichtserfahrungen: Das habe ich ja schon
gesagt: Ich habe nicht so unterrichtet und ich hätte es wohl auch nicht
gekonnt, ohne Vorerfahrungen. Das ist mir an dem Beitrag von Dirk Eiermann
(über die Suchmaschine auf der Seite des offenen Unterrichts aufzufinden)
klar geworden. Ich wäre viel zu sehr selbst damit beschäftigt gewesen für
Ruhe und Ordnung zu sorgen und dieses und das zu regeln und hätte viel zu
wenig den Ball an die Schüler zurückgespielt.
Überzeugt ist nicht das richtige Wort. Wenn Du lange selbst ausprobiert hast
und herumgesucht hast, gelesen hast, dann kannst Du auch sagen 'ja klar, so
isses'. Ich erwarte auch nicht, dass sich alle meiner Ansicht anschließen, nur
weil ich das her breittrete. Aber ich hoffe schon darauf, das es ein bisschen
mehr ist, als nur das verbleiben im eigenen Schützengraben und auf alles
schießen was sich nähert.
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