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Forum: "Gesamtschulbefürworter"
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| @lupenrein | | von: ing_08
erstellt: 11.04.2008 00:07:21 geändert: 11.04.2008 00:11:37 |
Den Vergleich konnte ich dafür schrittweise
ab 1991 miterleben.
Auf Grund meiner Tätigkeit als Honorarkraft,
Hausaufgabenbetreuung an einer Grundschule,
kann ich nun auch praktisch eins zu eins
meine DDR-Kindheit mit dem westlichen Gegenstück
in Verbindung bringen.
Darüber hinaus:
Natürlich ist das meiste theoretischer Natur -
ich bin schließlich zu jung (Jahrgang 1983),
um einen vollen Bildungsgang in der Einheitsschule
absolviert haben zu können.
Doch besitze umfangreiche Fachliteratur sowie
Unmengen staatlicher Dokumente der DDR.
Stundentafeln, didaktische Unterrichtshilfen,
Gesetzestexte, Fachbücher, Statistikbücher,
Handreichungen für Lehrer, Erziehungspläne,
Aufsätze über geplante Weiterentwicklungen
des Bildungssystems, Dokumente über Schulversuche,
Dokumente zur Hochbegabtenförderung, Elitekonzepte,
Abhandlungen zur Talentförderung, Informationen zu
den Spezialklassen, Spezialschulen usw. usf..
Darüber hinaus hüte ich meine alten Schulhefte
aus der polytechnischen Oberschule.
Nur bei den authentischen Schulbüchern und bei
einigen Details des Hochschulstudiums habe ich in
punkto DDR-Bildungssystem noch Außenstände.
So konnte ich bspw. noch nicht die Stundentafeln
aller Studiengänge archivieren.
Doch auch hier versuche ich, nachzusteuern.
Und: Verwandte, vor allem meine Mutter und meine
älteren Geschwister, sind vortreffliche Zeitzeugen.
Die können mir auch in weitere Bereiche des
DDR-Systems tiefe Einblicke gewähren:
Gesundheitswesen, Sozialpolitik, Familienpolitik,
Rentenpolitik, Reaktionsweise des politischen Systems bei Kritik.
Ich bin somit umfassend im Bilde, auch wenn ich
die DDR selber nur bis einige Monate nach meinem
7. Geburtstag bewußt erlebt habe.
Meine gebrochene Biographie hat in der Hinsicht
sogar einen unschätzbaren Vorteil, denn ich
habe einerseits den Systemwechsel sukzessive hautnah
miterlebt, andererseits vom Auslaufen des
"real existierenden Sozialismus" nicht wenige
Vorteile gehabt. Auf allen meinen Realschulzeugnissen
bis 1999 ist noch auf der Rückseite vermerkt
"Bildungsgang polytechnische Oberschule", da jede
Reform, die Sachsen nach 1994 durchgeführt hat,
für meinen Jahrgang nicht mehr gegolten hat.
Ich wurde also, mit Ausnahme der ideologischen
Verzerrungen in Fächern wie Staatsbürgerkunde
oder Geschichte, auf dem Niveau der DDR ausgebildet
- Stundentafeln, didaktisch-pädagogisches Vorgehen
der Lehrer, Bildungsinhalte, Anforderungen,
Benotung, Kopfzensuren, Prüfung nach Klasse 10.
Nur die Sportprüfung mußte keiner von mehr ablegen.
Um profunde, aussagekräftige Vergleiche anzustellen,
brauche ich mir deswegen nur anzuschauen,
wie Schule heute so läuft.
Des weiteren erlaubt mir meine soziale Herkunft,
bis 1990 gehörte ich nämlich zur priviligierten
Arbeiterklasse, profunde, überlegene Einschätzungen
tätigen zu können, wie das heutige Schulsystem
mit dem sozialen Milieu und der Finanzkraft der
Eltern wechselwirkt.
Jene Ungerechtigkeit des gegliederten Schulsystems,
sowie die Loslösung vom Leistungsgedanken
(Leistung ist eben nicht ausschlaggebend),
durfte ich mehrfach am eigenen Leib spüren.
Und da kam ich noch relativ gut weg,
weil ich eben durch das Auslaufen der alten
DDR-Strukturen nicht sofort gegen die unerbittliche Wand von heute lief.
Frühkindliche Förderung, Einheit von Bildung und
Erziehung, Sozialverhalten, soziale Gerechtigkeit,
Chancengleichheit in der Schule, soziale Werte,
charakterliche Weiterbildung -
von derartigen DDR-Altlasten lebe ich noch heute.
Ebenso hatte ich Glück, daß ich später auch
ein hervorragendes Gymnasium nach dem Realschul-
abschluß erwischte, was den sozialen und didaktischen
Geist der Einheitsschule halbwegs wahren konnte.
Trotzdem war es seit 1994 hauptsächlich Kampf -
je älter ich wurde, je mehr ich mit den finanziellen
Unsitten des Westsystems und dem Nichtvorhandensein
von sozialem Ausgleich in Berührung kam, desto härter
wurde es, weiterführende Abschlüsse und Qualifikationen zu erhalten.
Schon das Stigma "bildungsferne soziale Unterschicht".
Im Gegensatz zu vielen anderen (hier) weiß ich
daher, was es heißt, wenn Bildung einerseits
sozial integrativ funktioniert, und wenn
Bildung eben separativ und selektiv funktioniert.
Das alles macht mich nicht nur zum Zeitzeugen,
sondern auch zum Experten für sämtliche Facetten
der Debatte Einheitsschule gegen gegliedertes Schulsystem.
Ahoi |
| Macht ja nichts! | | von: lupenrein
erstellt: 11.04.2008 00:41:05 geändert: 11.04.2008 00:45:40 |
"Wenn dem Inschenör sein Geburtsdatum stimmen tut, war er beim Mauerfall maximal 6 Jahre alt und konnte daher selbstverständlich alles inne "Soffjettzone" (Zitat Konrad Adenauer) selbst als gut und richtig erlebt haben" - zu der Aussage stehe ich noch immer.
Bildungsferne Schicht = Nachteile?
Ich ging zur Volksschule und sollte nach Meinung meiner Lehrer zum Gymnasium (das war, glaube ich, 1959). Das Schulgeld war abgeschafft, aber mein Vater ließ mich nicht, weil er der Auffassung war, ich müßte als Gymnasiast besser gekleidet sein - und das konnte er vor meinen kleineren Geschwistern nicht verantworten -
Ein honoriger Mann mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Aber wer hatte ihm den Floh ins Ohr gesetzt? Davon abgesehen hätte er mir nicht weiterhelfen können. Er war Arbeiter auf einer Steinkohlenzeche.
Ich habe dann eine Lehre absolviert, bin 31/2 Jahre lang nach der Arbeit zur Abendschule gegangen....
Heute wird gnadenlos aussortiert und in Kasten eingeteilt. Damit wird Schicksal gespielt - ich traue mir nicht zu einzuschätzen, ob ein Viertklässler vielleicht 5 Jahre später im 9. Schuljahr abgeht wie ein Zäpfchen oder ob ein fleißiges Bienchen später zum Schulversager wird.
Unsere Tochter bekam eine Hauptschulempfehlung von ihrer Lehrerin, die sie genau 1/4 Jahr!!! gesehen hatte. Lehrer müssen mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet sein, um in dieser Zeit Schicksal spielen zu können.
Wir haben uns einen Dreck darum gekümmert.
Die Kleine (Jahrgang 1974)ist zum Gymnasium gegangen, hat an der Uni in Münster Betriebswirtschaft studiert und bei Prof. Meffert ihr Diplom in Marketing gemacht.
Ich habe sie mit Mühe davon abgehalten, ihrer Grundschullehrerin ihr Diplom vor die Nase zu halten.
Die hätte womöglich eher Abitur und Diplom als einen Fehler betrachtet als ihren Irrtum einzusehen.
Was, wenn ich - statt als Ingenieur - als Elektriker bei einem Handwerksunternehmen gearbeitet hätte?
Wäre unser Kind soweit gekommen? Wohl kaum!
Soviel zur Chancengleichheit, zum gegliederten Schulsystem et cetera.
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| Chancengleichheit vorgegaukelt | | von: rhauda
erstellt: 11.04.2008 14:42:08 geändert: 11.04.2008 14:44:33 |
Was, wenn ich - statt als Ingenieur - als Elektriker bei einem Handwerksunternehmen gearbeitet hätte?
Wäre unser Kind soweit gekommen? Wohl kaum!
Soviel zur Chancengleichheit, zum gegliederten Schulsystem et cetera.
Ich empfehle die Lektüre der aktuellsten Studie von Fend. Der ehemals feurige Gesamtschulbefürworter,der mit seiner Studie eigentlich die Überlegenheit der Gesamtschule bezüglich der Bildungsbiografie in Verbindung mit sozialem Hintergrund beweisen wollte, musste zähneknirschend eingestehen, dass genau das, was die Gesamtschule leisten soll, eben nicht geleistet wird, nämlich:
Die Erhöhung der Chancengleicheit. Die Gesamtschule ist dort nicht besser und nicht schlechter als das dreigliedrige Schulsystem. Bei IGS-Absolventen ist der soziale Hintergrund genauso entscheidend für den weiteren Bildungs- oder Berufsweg wie in anderen Systemen. Dafür ist sie aber schweineteuer.
Dazu kommt die Tatsache, dass im Schnitt die fachlichen Leistungen schlechter sind als im Schnitt im anderen System. Ich wiederhole: das gilt AUCH für Gegenden, in denen es zur IGS keine KOnkurrenzschulen gibt.
Noch einmal: wenn Hauptschulen und Realschulen die Ressourcen hätten, die die Gesamtschulen zur Verfügung haben, dann würde sich die Leistungsschere zwischen den beiden Formen 3-gliedrig und IGS noch weiter öffnen. Wenn dann auch noch der soziale Hintergrund in beiden Systemen gleich einflussreich ist, dann gibt es für mich kein Argument mehr für ein Gesamtschulsystem in der derzeitigen Form.
Ich begreife nicht die Diskutanten, die zu einem zugegebenermaßen unzulänglichen 3-gliedrigen System als einzige Alternative ein seit fast 40 Jahren bestehendes System sehen, das nachweislich noch unzulänglicher ist.
Gibt es nicht auch noch einen dritten oder vierten Weg?
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